Mit großer Spannung war die Rede des russischen Präsidenten zum Tag des Sieges erwartet worden. Was hatte es im Vorhinein nicht alles an Vermutungen gegeben: Eine Kriegserklärung an die Ukraine könnte am 9. Mai kommen, die Generalmobilmachung folgen, zumindest eine Teilmobilmachung.
Putin sprach auch wie von einigen erwartet keine nuklearen Drohungen gegen Kiew oder den Westen aus, ebenfalls kündigte er nicht den Einsatz neuer Waffensysteme an. Die Schlacht um Mariupol wurde mit keinem Wort erwähnt, es wurden keine konkreten Ziele für die kommenden Tage und Wochen formuliert, das Wort Sieg kam nur in Bezug auf den 9. Mai 1945 vor.
Dafür wiederholte Putin die bekannten Behauptungen: Die Ukraine sei von Nazis unterwandert, mit deren Hilfe der Westen beziehungsweise die Nato „sich auf die Invasion unseres Landes, einschließlich der Krim, vorbereitete“. Deshalb sei die Spezialoperation eigentlich ein Akt der präventiven Landesverteidigung. Alles in allem könnte man sagen: Im Osten nichts Neues.
Diese Antiklimax überraschte viele Beobachter. Beispielsweise hatten US-Geheimdienste noch vor einer Woche in der Rede eine Generalmobilmachung erwartet, die britischen bis zuletzt. Hatten Dienste, Medien und ihre Stichwortgeber im Westen sich also völlig verrechnet? Waren diese Befürchtungen grundlos geschürt worden?
Heute sprachen manche Medien bereits von einer „Kleinlaut-Rede“ des russischen Machthabers. Es wurde spekuliert, das sei nun der Anfang vom Ende des Krieges, der so fürchterlich schlecht für Putin laufe, dass er mittlerweile einen Ausweg suche. Doch es gibt keinen Grund, aus den heutigen Worten Putins irgendetwas abzuleiten.
Wer sich die Kommunikation des Kremls der vergangenen Monate ansieht, erkennt vor allem ein Muster: Täuschung. Die zielt darauf, das Überraschungsmoment auf die eigene Seite zu ziehen. Von Dezember an versicherte die russische Regierung durch ihre Vertreter immer und immer wieder unzweideutig, man habe keinerlei Absicht, die Ukraine anzugreifen.
Bis in die Woche des Überfalls sagte Moskau: Wir greifen die Ukraine nicht an
Russlands EU-Botschafter Wladimir Tschischow sagt beispielsweise Ende Dezember der Welt: „Ich kann versichern, dass keine russischen Truppen mit den Vorbereitungen für eine Invasion in die Ukraine beschäftigt sind.“ Am 10. Januar trafen sich diplomatische Vertreter Russlands und der USA in Genf. Russland beteuerte erneut, die Ukraine nicht angreifen zu wollen. Und so ging es weiter bis in die Woche des Kriegsbeginns.
Noch am 16. Februar machte sich die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, über die Warnung der amerikanischen Geheimdienste lustig, ein Einmarsch der Russen stehe unmittelbar bevor. Auf Twitter wurde aus ihrem Ministerium dazu eine Steppenhexe gepostet: In Westernfilmen der Inbegriff einer Szene, in der gar nichts passiert.
💬 #Zakharova: Today we mark another day of the “start of war with Ukraine,” which did not happen again, to the Western media outlets’ regret, no matter how hard they whip up the hysteria.
— MFA Russia 🇷🇺 (@mfa_russia) February 16, 2022
❗️ See for yourselves what the collective Western media and officials’ words are worth. pic.twitter.com/m6IUaPnUsp
Nur sieben Tage später erkannte Putin die sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk als eigenständig an. Am Morgen des 24. Februars um 4.50 Uhr Kiewer Zeit überschritten russische Truppen die Grenze zur Ukraine bei Charkiw und bombardierten Ziele im ganzen Land. Fallschirmjäger landeten nahe der Hauptstadt.
Kurz davor hatte Putin für viele überraschend in einer aufgezeichneten Fernsehansprache angekündigt, er habe eine besondere „Militäroperation“ im Donbass beschlossen. Doch auch da sagte er noch: Die Ukraine solle nicht besetzt werden, jedoch vollständig demilitarisiert.
Wenn die vergangenen Monate – wer genau hinsah, die vergangenen Jahre – etwas gezeigt haben, ist es doch, dass der russische Machthaber seine Ziele kompromisslos verfolgt. Mittlerweile sagen eigentlich alle deutschen Politiker, sie seien von Russland getäuscht worden. Es gibt aber auch für jeden einzelnen Bürger keinen Grund mehr, Moskaus Worten zu glauben. Es zählen nur Moskaus Taten.
Es gab nicht nur einen Tschetschenienkrieg – der zweite dauerte zehn Jahre
Wer dem Narrativ glaubt, Putin habe sich in der Ukraine völlig verrechnet, an einen viel schnelleren Sieg geglaubt, sein eigenes Militär überschätzt, falsche Informationen von den Geheimdiensten erhalten und sei nun kurz davor, klein beizugeben oder zumindest auf der Suche nach einem gesichtswahrenden Kompromiss, wird all das auch in Putins heutige Rede hineinlesen können.



