Seit zehn Monaten ist Olaf Scholz Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Und viele Menschen fragen sich: Wofür steht dieser Mann eigentlich? Außer vermeintlichen Erinnerungslücken an Treffen mit Warburg-Bankier Christian Olearius zu kriminellen Cum-Ex-Aktiengeschäften. Sicher, seine ruhige Hand mitten im Ukraine-Krieg ist hilfreicher als so mancher Hobby-General, der in deutschen Talkshows ohne Rücksicht auf Verluste nach der Menschen- und Materialschlacht mit Russland ruft. Aber was ist eigentlich das politische Projekt des Herrn Scholz?
Ein kurzer Rückblick: Mit seiner Amtsübernahme wurde eine „Zeitenwende“ eingeleitet und ein 100 Milliarden Euro schweres Sondervermögen für Rüstung geschaffen – außerhalb der Schuldenbremse. An der Schuldenbremse wird jedoch trotz Krieg und Energiepreiskrise sowie der Gefahr von Pleitewellen bei Betrieben vorerst festgehalten. Deutschland rutscht derweil wie kaum ein anderes Industrieland in die Rezession. Eine echte Übergewinnsteuer für Energiekonzerne, die mit Verstromung von Gas abnormale Profite erwirtschaften, ist nicht in Sicht, da die FDP sich sträubt. Die Gaspreisbremse soll erst im Frühjahr nach der Heizperiode kommen, weil unter anderem die Grünen zu lange auf der Bremse standen, mangelnde Anreize zum Energiesparen selbst bei armen Haushalten befürchteten und die staatliche Bürokratie kurzfristig überfordert ist. Stattdessen gibt es eine Abschlagszahlung auch für Reiche. Das mit dem Anreiz zum Energiesparen ist für die Besitzer eines Swimmingpools am Tegernsee plötzlich egal. Der Kanzler nutzte seine Richtlinienkompetenz ein einziges Mal: bei der Verlängerung der Laufzeit von Atomkraftwerken.
Welches Deutschland strebt Herr Scholz also an? Nach fast einem Jahr wagt sich der Bundeskanzler aus der Deckung. Herr Scholz verkündet jedoch kein staatliches Investitionsprogramm für europäische Energiesouveränität. Und Herr Scholz überrascht auch nicht mit einer international koordinierten diplomatischen Initiative, um die Gefahr eines Atomkrieges zu bannen. Nein, der Bundeskanzler strebt ein neues Freihandelsabkommen mit den USA und der „freien Welt“ an, um zukünftig weniger abhängig von China zu sein. Diese Idee liegt aufgrund von Protesten gegen das Transatlantic Trade and Investment Partnership (TTIP) seit 2017 mehr oder minder auf Eis.
Nichts ist dagegen einzuwenden, dass Europa seine strategische Autonomie gegenüber Weltmächten wie China erhöht. Aber dies wird nicht durch neue Abhängigkeiten gegenüber den USA gelingen. Die USA nutzen jetzt bereits den Ukraine-Krieg für den Export von Fracking-Gas und die Erlangung von Wettbewerbsvorteilen gegenüber europäischen Unternehmen, die unter hohen Energiepreisen aufgrund des Wirtschaftskrieges mit Russland leiden.

„Kaum ein Land wurde durch Freihandel reich!“
Die Idee, dass freier Handel – also die Beseitigung von Schutzzöllen und Regulierungen wie Sozial- und Umweltgesetzen – durch Effizienzgewinne den Wohlstand aller Handelspartner hebt, wird in dieser Schlichtheit kaum noch vertreten. Der renommierte südkoreanische Ökonom der Universität Cambridge, Ha-Joon Chang, etwa betont, dass kaum ein Land durch Freihandel reich wurde. Die meisten erfolgreichen Beispiele des wirtschaftlichen Aufstiegs, ob in Nordamerika, Europa oder Asien, gingen mit dem selektiven Schutz strategischer Industrien einher, die erst schrittweise dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt wurden. China ist dafür übrigens ein hervorragendes Beispiel der jüngeren Wirtschaftsgeschichte.
Die Proteste gegen TTIP entzündeten sich damals an privaten Investor-Staat-Gerichten, die es Konzernen erlaubt hätten, vor diesen Schiedsgerichten gegen Sozial- und Umweltauflagen oder andere Regulierungen zu klagen, die in ihrem Herkunftsland nicht existieren. Dies kann zum Beispiel Arbeitsschutzgesetze oder die Universaldienstverordnung betreffen, die Postdienstleister verpflichtet, bei Zustellung von Briefen nicht nur die Rosinen aus dem Markt zu picken, sondern auch die Großmutter im hintersten Winkel eines Dorfes zu beliefern. Dies könnte auch bedeuten, dass Filmkonzerne regionale Filmförderung in Europa einklagen, die chemische Industrie gegen das Vorsorgeprinzip bei der Zulassung von Produkten vorgeht oder die amerikanischen Energiemultis die Verbote von Fracking vor europäischen Küsten angreifen. Oder Meta (vormals Facebook), Apple und Co. gegen Datenschutzgesetze und Regulierungen auf dem Finanzmarkt klagen, die so davon abhalten, selbst zu mächtigen Schattenbanken des Internet-Zeitalters zu werden.
Was will Herr Scholz also mit diesem unpopulären Vorstoß erreichen? Vermutlich will er in Erwartung eines polarisierten Wahlkampfes in Amerika, bei dem Donald Trump wieder die Fäden zieht, von der Abneigung der Deutschen gegen den Clown aus Washington profitieren, indem er die Karte des Transatlantikers spielt? Vielleicht will er auch Washington wegen seiner Zurückhaltung im Ukraine-Konflikt gnädiger stimmen.
Die Zeitenwende ist real: Wir erleben eine Epoche des Konflikts zwischen den USA und der neuen Großmacht China. Scholz besinnt sich dabei auf das, was Westeuropa bereits im Kalten Krieg getan hat. Er versucht, unter den Rock der USA zu schlüpfen. Aber die USA haben sich längst von Europa abgewendet. Der Ukraine-Krieg ist längst auch ein Stellvertreterkrieg um die neue Weltordnung, bei dem Europa als Verlierer hervorgeht. Das vorherrschende Interesse in Washington ist nicht eine schnelle Beendigung des Krieges, sondern den Angreifer Russland in einen langen Abnutzungskrieg zu verwickeln. Die USA wollen sich zukünftig auf den Pazifik und China konzentrieren.

Olaf Scholz ist offensichtlich überfordert
Es wäre daher an der Zeit, dass Europa sich stärker um sein eigenes Schicksal kümmert. Eine europäischer New Deal erfordert Energiesouveränität durch Milliardeninvestitionen in die Energiewende, Schnellzüge von Lissabon nach Helsinki, Mega-Investitionen in das Schienennetz und Busse und Bahnen auch auf dem Land, um Mobilität zu sichern und unabhängiger von Russland, Fracking-Gas und den Ölscheichs dieser Welt zu werden.
Europäische Industriepolitik für das 21. Jahrhundert benötigt eine digitale Infrastruktur, die nicht in der Hand von amerikanischen und chinesischen Konzernen liegt. Deutschland braucht dabei etwa eine Initiative zur Digitalisierung der deutschen Verwaltung, um in Krisen wie Pandemien und Kriegen Finanzspritzen unkompliziert an die Bevölkerung auszuzahlen.

Wir benötigen Investitionen in den Katastrophenschutz im Zeitalter des Klimawandels und eine Politik zur Stärkung von Beschäftigung und Sozialstaat, damit es die Gesellschaft nicht zerreißt. Zuletzt muss Europa einen Beitrag zur wirtschaftlichen Stabilisierung von Herkunftsländern von Flüchtlingen leisten, statt, mit oftmals verheerenden Freihandelsabkommen, Menschen in die Schattenwirtschaft Europas zu drängen.




