Kolumne

Wie Europa den Faschismus in Italien stärkte

Die Spielregeln der Eurozone waren nicht für Italien gemacht. Sie haben dem Land Depression beschert und die Neofaschistin Meloni an die Macht gebracht, schreibt unser Kolumnist Fabio De Masi.

Giorgia Meloni, die Vorsitzende der Fratelli d'Italia hat die Parlamentswahlen gewonnen, bei denen sie als erste Ministerpräsidentin Italiens die rechtsextremste Regierung seit der faschistischen Ära von Benito Mussolini anführen wird.
Giorgia Meloni, die Vorsitzende der Fratelli d'Italia hat die Parlamentswahlen gewonnen, bei denen sie als erste Ministerpräsidentin Italiens die rechtsextremste Regierung seit der faschistischen Ära von Benito Mussolini anführen wird.IMAGO/ZUMA Press

Wenn ich als kleiner Junge auf dem Schoß meines italienischen Großvaters am Kamin saß und er mir, „il tedesco“ (der Deutsche), wie mich meine Spielkameraden häufig liebevoll aufzogen, mit seinen rauen Händen eine Figur aus einer Kastanie schnitzte, konnte ich oft den rasselnden Husten hören.

Sicher, es waren auch die Menthol-Zigaretten, die er rauchte. Aber erst viele Jahre später erfuhr ich einen weiteren Grund.

Im Krieg musste sich mein Großvater, Kommandant einer sozialistischen Partisanen-Einheit im Piemont, häufig in Erdlöchern verstecken. Meine Großmutter, eine Bäuerin, lernte der junge Mann aus dem Süden in eben jenen Bergen kennen.

Sie verteilte unter den Männern Stofftücher, die sie sich in den Mund stopften, um den ständigen Husten von den nassen und kalten Erdlöchern zu unterdrücken und nicht entdeckt zu werden, wenn die Truppen Mussolinis oder der Wehrmacht in ihren schwarzen Stiefeln die Hänge durchschritten. Wenn die Luft rein war, trällerte Nonna Virginia ein Lied.

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BLZ/Paulus Ponizak
Zum Autor
Fabio De Masi war Mitglied des Deutschen Bundestages für die Linke sowie des Europäischen Parlaments und machte sich dort bei der Aufklärung von Finanzskandalen – etwa um den Zahlungsdienstleister Wirecard – einen Namen. Er ist Kolumnist bei der Berliner Zeitung.

Unterstützung von der Partisanen-Rente

Nonno Franco lehrte sie das Schießen, da sie Motorrad fahrend Botschaften der Partisanen in einer Salami schmuggelte und eine Waffe mit sich führte. Wenn man Glück hatte, wurden die Frauen und Kinder aus dem Widerstand von den Faschisten der Brigate Nere nicht erschossen, wenn sie bei zu viel Grausamkeit einen Aufstand der lokalen Bevölkerung fürchteten, und sie wurden „nur“ misshandelt oder ihnen das Haar geschoren.

Noch Jahrzehnte später musste meine Großmutter ungerührt zur Tat schreiten, wenn es galt, die Kaninchen zu schlachten oder den Hühnern den Hals umzudrehen, sodass diese kopflos wie in einem Horrorfilm um mich herumrannten, während ich schockiert mit meinem Spielzeug mitten im Geschehen saß. Nonno hielt die Tiere in seiner Freizeit als Pensionär auf seinem kleinen Stück Land, damit ihm zu Hause nicht die Decke auf dem Kopf fiel und er etwas Essen auf den Tisch brachte. Sogar meine Mutter rief er hinter dem Rücken meines Vaters heimlich nach der Trennung an, um sie – die Deutsche – zu fragen, ob sie Unterstützung von seiner Partisanen-Rente bräuchte.

Viele Täter wurden in Deutschland nie zur Rechenschaft gezogen

Mein Großvater brachte es nicht über das Herz, seine Tiere zu schlachten, er schloss sich in seinem kleinen Kabuff ein und betrank sich, während meine Großmutter ihn verfluchte. Es war nicht nur das Herz für seine Tiere, das den Mann mit dem strengen Blick und den wettergegerbten Händen, mit denen er ungerührt in den Bienenstock fasste, davon abhielt zu tun, was für einen Bauer eben zu tun war. Es war die Erinnerung an den Krieg, in dem er zu oft hatte töten müssen.

In Sant'Anna di Stazzema, einem malerischen Ort in der Provinz Lucca in der Toskana, hatten die Menschen weniger Glück als meine Großeltern. Die Waffen-SS verübte dort am 12. August 1944 ein Massaker, dem wahrscheinlich 560 Menschen – Zivilisten, Frauen und 130 Kinder – zum Opfer fielen. Die Täter wurden in Deutschland nie zur Rechenschaft gezogen.

Eine Erklärung beginnt mit dem Ende des Kalten Krieges

Heute, 78 Jahre später, haben die Menschen in den Hügeln des Piemont, unweit der Fiat Werke in Turin, dem Autobauer, wo einst die Arbeiter streikten und die Kommunistische Partei den Bürgermeister stellte, sowie in Sant'Anna di Stazzema, in der einst roten Toskana, mehrheitlich eine Faschistin, Giorgia Meloni, zur Ministerpräsidentin gewählt. Fiat hat heute seinen Sitz in den Niederlanden, damit der Agnelli Clan, die mächtigste Familie in Italien, noch weniger Steuern zahlt. Im ärmeren Süden, aus dem mein Großvater stammt, lag der frühere Ministerpräsident der Fünf-Sterne-Bewegung, Giuseppe Conte, vorne, der mit sozialen Themen einen Wahlkampf führte. Die Fünf Sterne hatten die Mehrparteienkoalition unter dem Technokraten und ehemaligen EZB-Präsidenten Mario Draghi wegen der Auswirkungen der Gaspreiskrise und den Energiesanktionen aufgekündigt. Aber auch in diesen Landstrichen, auf die Faschisten seit jeher verächtlich hinabblicken, weil dort die Terrone, die Erdfresser leben, wie sie Männer wie meinen Großvater nennen, eilte Meloni zu Erfolgen. Wie konnte es dazu kommen?

Eine Erklärung beginnt mit dem Ende des Kalten Krieges, dem Kollaps der italienischen Kommunisten (die einst brillante Intellektuelle in ihren Reihen wussten, Moskau auf Abstand hielten und tief in der Arbeiterschaft verwurzelt waren) und ihrem Aufgehen im Partito Democratico, der eher mit der Demokratischen Partei in den USA als einer echten Sozialdemokratie vergleichbar ist und die Großstadtintellektuellen anspricht, die europäische Hauptstädte wie Berlin bereisen.

Italien hat alles gemacht, was Brüssel und Berlin verlangt haben

Entscheidend waren aber vor allem die Jahre seit Einführung des Euro. Denn Italien verlor die Fähigkeit, seine Waren durch Abwertung der Lira konkurrenzfähig zu halten, während in Deutschland mit der Schröder-Regierung und Hartz IV die Löhne nicht mehr vom Fleck kamen. Norditalien ist immer noch eine der reichsten Regionen Europas, mit vielen leistungsfähigen Betrieben. Aber Italien stagniert. In Italien, das einst stolz auf seine Lebensmittel, seine Mode, die Möbel, ja sogar die Autos und das Design waren, werden Gucci & Co. längst von chinesischen Arbeitern, die in Containern hausen, zusammengenäht. In Rom, dem größten Freilichtmuseum der Welt mit seinem reichen kulturellen Erbe aus der Zeit der Römer, beklagen sich die Taxifahrer, dass die Straßen mittlerweile so viele Schlaglöcher haben, dass ihr Auto nur noch halb so lange hält.

Dabei hat Italien alles gemacht, was Brüssel und Berlin verlangt haben. Bis zur Pandemie war Italien das einzige Industrieland der Welt, das seit den 90er-Jahren durchgehend einen Primärüberschuss, einen Haushaltsüberschuss vor Zinsen, erwirtschaftete. Nur die Zinsen auf die Altschulden aus den 1980er-Jahren, als Zentralbanken um die Wette die Zinsen nach oben schraubten, fraßen dies regelmäßig auf.

Italien erwirtschaftete sogar Exportüberschüsse

In Italien war man entgegen der dummen Vorurteile „sparsamer“ als nördlich der Alpen, wo „deutsche Vita“ herrschte. Aber dadurch wurde nicht mehr genug investiert und die Wirtschaft lag im Koma. Die Schulden stiegen, statt zu sinken, und die Industrie siechte dahin. Mein Onkel, der es mit einer kleinen Fabrik, wo er Teile der Schuhe für die Massenproduktion herstellte, zu bescheidenem Wohlstand brachte, musste einst einige der eigenen Kindheitsfreunde entlassen, weil die Produktion nun billiger in Albanien war. Ich riet ihm immer, auf neue Maschinen umzusatteln und einen edlen italienischen Herrenschuh für den Markt in Deutschland zu produzieren, weniger Stück, aber zum höheren Preis. Doch er antwortete: „Warum soll ich einen Kredit aufnehmen und investieren, wenn meine Kinder die Fabrik nicht weiterführen wollen?“ Mittlerweile hat mein Cousin die Produktion übernommen, und ist ein erfolgreicher Jungunternehmer. Aber mein Onkel und die alte Welt, die den Bus verpasst, das war Italien in Miniatur.

Italien erwirtschaftete sogar Exportüberschüsse wie Deutschland. Doch aus Berlin und Brüssel hieß es meistens nur: Ihr müsst den Gürtel noch enger schnallen. Hinzu kam Dublin 2, die europäische Regel, die vorsah, dass Flüchtlinge dort Asyl beantragen müssen, wo sie zuerst ihren Fuß auf europäischen Boden setzen. Das waren Küstenstaaten wie Italien. Wenn ich meinen Vater südlich von Neapel besuche, ist das Elend vieler Afrikaner sichtbar, die sich als Prostituierte oder Landarbeiter ohne Rechte auf den Feldern verdingen.

Brüssel wird die Nase rümpfen

Meloni aber bereitet Brüssel kaum Kopfschmerzen: Die Regeln der Euro-Zone stellt sie nicht infrage und sie beeilte sich, die Finanzmärkte zu beruhigen. Auch in der Ukraine-Politik, die Auslöser für die Neuwahlen war, trägt sie die Brüsseler Linie mit und ruft nicht nach Verhandlungen. Daher wird man sich in Berlin und Brüssel schnell mit ihr anfreunden. Sie wird, wie so viele italienische Politiker vor ihr, ein absurdes Spektakel bieten: Je stärker sie vor Brüssel kuscht, desto lauter wird sie über den Verfall der Familie fluchen und mit Härte gegen Flüchtlinge vorgehen.

Brüssel wird etwas die Nase rümpfen, aber die reichsten Familien des Landes werden sich freuen, dass die Wut und Ohnmacht des Volkes nicht auf sie gerichtet wird. Nur mein Großvater, der wird sich im Grab umdrehen. Für ein Großmaul wie Meloni, deren Absätze klingen wie die schwarzen Stiefel der Faschisten und Großgrundbesitzer, und die nicht weiß, wie die Erde in Italien riecht und schmeckt, weil sie nie darin übernachten musste, hätte er nur Verachtung übrig.

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