Die Zahlen, die das Ausmaß des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine zeigen, sind schockierend: Nach Angaben der ukrainischen Regierung sind seit dem 24. Februar mehr als 29.000 ukrainische Zivilisten getötet, 90.000 Quadratkilometer ukrainisches Territorium von Russland besetzt, bis zu 1,6 Millionen Ukrainer (darunter bis zu 260.000 Kinder) illegal nach Russland deportiert worden. Auf dem Schlachtfeld kämpft die Ukraine weiter – und auch an der diplomatischen Front. Das Land will sich stärker dafür einsetzen, dass gerichtlich gegen Russland vorgegangen wird.
Seit mehreren Monaten ist die Rede von der Einrichtung eines Sondertribunals für die Verfolgung Russlands wegen des „Verbrechens der Aggression“ gegen die Ukraine. Damit will die Ukraine „eine Lücke im internationalen Strafrechtssystem füllen“, so der ukrainische Außenpolitiker Anton Korynevych. Als Sonderbeauftragter im ukrainischen Außenministerium für internationale Zusammenarbeit war er letzte Woche zu Besuch in Berlin, um mit deutschen Kollegen im Auswärtigen Amt sowie im Justizministerium dieses Ziel zu besprechen. „Neben dem Sieg der Ukraine ist es unsere erste Priorität, Russland für seine Verbrechen in der Ukraine zur Rechenschaft zu ziehen“, erklärte Korynevych der Berliner Zeitung bei einem Gespräch in der ukrainischen Botschaft.
Die Lücke, von der er spricht, bezieht sich darauf, dass es aktuell kein rechtliches Organ gibt, das einen Staat wegen eines Verbrechens der Aggression, das im Völkerrecht als ein Verbrechen von politischen und militärischen Führungskräften gilt, verurteilen kann. Es gehe also nicht darum, eine Alternative zum Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag zu schaffen, der unter anderem für die Verfolgung von Kriegsverbrechen und Völkermord verantwortlich ist, so Korynevych: Einzelne russische Soldaten sind bereits von ukrainischen Gerichten wegen Kriegsverbrechen verurteilt worden. Und bereits am 26. Februar, zwei Tage nach dem russischen Überfall auf die gesamte Ukraine, wurde eine Klage des Landes gegen Russland beim International Gerichtshof (IGH) in Den Haag eingereicht.
Sondertribunal soll Wladimir Putin anklagen
Man wolle aber korrigieren, dass seit der russischen Annexion der Krim und dem Beginn der Eingriffe im ostukrainischen Donbass 2014 zu dieser Anklage nicht ermittelt werden konnte. „Das Verbrechen der Aggression ist das zentrale internationale Verbrechen – da befindet sich der Ursprung aller anderen Verbrechen“, sagt Korynevych. Per Definition handelt es sich beim Verbrechen der Aggression um „die Planung, Vorbereitung, Einleitung oder Ausführung einer Angriffshandlung“ gegen „die Souveränität, die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates“.
Sollte ein Sondertribunal beschließen, Wladimir Putin oder andere politische und militärische Führungskräfte Russlands anzuklagen, wäre internationale Unterstützung erforderlich, um sie dem Gericht zu übergeben – und um die Frage der Immunität von Staats- und Regierungschefs zu klären, so Korynevych. Und selbst von wem das Tribunal einberufen werden soll, ist noch nicht klar. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen wäre dazu in der Lage – doch dort sitzt Russland mit Vetorecht.
Die Ukraine wolle zusammen mit internationalen Partnern deshalb andere Möglichkeiten prüfen, so Korynevych: Das könnten etwa ein Beschluss der Generalversammlung der Vereinten Nationen oder ein Abkommen der Ukraine mit der EU oder dem Europarat sein.
Die Nürnberger Prozesse sind nicht aus dem Nichts entstanden.
Unterstützung gibt es bereits, unter anderem vom Europaparlament und der Parlamentarischen Versammlung der OSZE sowie von den baltischen Ländern. Anfang letzter Woche unterzeichneten die Regierungschefs der drei Länder eine Erklärung dazu. Die Bundesregierung – mit der es nach Angaben von Korynevych eine „gute Zusammenarbeit“ gibt – hat sich zur Frage eines Sondertribunals noch nicht offiziell geäußert. Tobias Lindner (Grüne), Staatsminister im Auswärtigen Amt, sprach vergangene Woche von einer „offenen Frage“; die Bundesregierung sei „in engen Konsultationen“ mit ihren „ukrainischen Freunden“, wolle aber klären, ob man auch gegen Russland durch bestehende Strukturen vorgehen könne.
Deutschland sei nicht das einzige Land, das noch von der Notwendigkeit des Sondertribunals überzeugt werden müsse, so Korynevych. „Wir versuchen, den Regierungen zu erklären, dass es nicht darum geht, die Arbeit des IStGH zu behindern oder zu erschweren, sondern sie zu ergänzen und zu vervollständigen“, sagt er. Andere Partner würden argumentieren, dass die Einrichtung eines solchen Tribunals vor Kriegsende mögliche Friedensabkommen zwischen der Ukraine und Russland ausschließen würde. Anton Korynevych betont die Position seines Landes in dieser Frage: Solange Wladimir Putin russischer Präsident sei, werde die Ukraine nicht mit Russland verhandeln.



