Nach dem Urteil gegen Lina E.

Ein Tag mit X in Leipzig: Und die AfD freut sich

Kann man Extremismus mit Extremismus bekämpfen? Gibt es gute und schlechte Gewalt? Und ist es so falsch, Nazis auf die Fresse zu hauen? Eindrücke vom „Tag X“ in Leipzig.

Mit Vermummung keine Demo.
Mit Vermummung keine Demo.Sebastian Willnow/dpa

Raus aus dem schönsten Bahnhofsgebäude Deutschlands, wo die Polizei aus wohl begründeter Erfahrung bereits das Gleis mit den aus Chemnitz ankommenden Zügen umstellt hat, die Ankömmlinge auf Alkoholpegel oder zu offen zur Schau gestellte Verfassungsfeindlichkeit oder vielleicht einfach nur auf die übliche fußballmännliche Toxizität überprüft. Und dann gleich mal Shazam an, man will ja wissen, welche Playlist der DB-DJ für den „Tag X“ in Leipzig ausgewählt hat und über Boxen auf den Bahnhofsvorplatz rieseln lässt.

Trotz der hier in Repeat-Schleife geführten Selbstsuffgespräche, trotz der lärmverschmutzenden Wutautohupen und tendenziell Richtung Süden heulenden Polizeisirenen meldet die App nach wenigen Sekunden: „Evening Melody – Birds and Nature for Meditation“. Das Genre: „Naturespace Music“. Und um 11 Uhr morgens ist das schon eine subtile Fluchtwarnung, den folgenden Abend besser in Begleitung eines Klangschalen anschlagenden Ornithologen zu verbringen, am schönen Barbarasee im nördlich von Leipzig gelegenen Gräfenhainichen vielleicht.

Jedenfalls nicht im Stadtzentrum mit diesem anstrengendem Überangebot an Eindrücken und Emotionen und potenziellen Entgleisungen. Hier eine unvollständige Liste: ein Familienstadtfest auf dem Augustusplatz, eine (letztlich dünn besetzte) Fridays-for-Future-Demo zum Weltfahrradtag, das Sachsenpokalfinale zwischen Lok Leipzig und dem Chemnitzer FC (3:0) und ihren gerne rechts außen stürmenden Anhängern, dazu Herbert, der sich durchs Zentralstadion grönemeyert und mit seinem neuen Albumtitel viel mehr verspricht, als er halten kann: „Das ist los“. Und natürlich die Sache in Connewitz.

Im südlichen Stadtteil Leipzigs sollte der Antifa-Ost-Prozess noch einmal auf der Straße verarbeitet und ein bisschen auch nachverhandelt werden, obwohl aufgrund einer sogenannten Gefahrenprognose alle Demonstrationen verboten worden sind, letztinstanzlich vom Bundesverfassungsgericht. Das hinderte die linken Demoprofiorganisatoren vom Say it loud e.V. nicht daran, für eine Veranstaltung unter dem Motto „Die Versammlungsfreiheit gilt auch in Leipzig“ zu werben. Beginn um 16.30 Uhr am Alexis-Schumann-Platz, Südvorstadt, fast Connewitz. Ausgang ungewiss.

Ein Tag mit X, das war wohl nix?

Die Leipziger Polizei ließ bereits vorher ihren „Tag der offenen Türen“ ausfallen und dafür einen zumindest der allgemeinen Verunsicherung angemessen großen Einsatz vorbereiten, mit Kontrollzonen und einem erhöhten Bedarf an Wasserwerfern und Räumfahrzeugen. Ein Tag mit X, das war wohl nix?

Seit dem Urteil gegen die (immer noch mutmaßliche) Nazischlägertrupp-Anführerin Lina E. und drei Mitangeklagte am vergangenen Mittwoch ist die linke Szene in Aufruhr und die linksextremistische in erhöhter Alarm- und Gewaltbereitschaft. Im Flaschen und Steine werfenden, Barrikaden und Autos anzündenden Widerstandsmodus gegen den Bullenstaat, das rechtsdrehende Schweinesystem. Oder wie auch immer sie das nennen, was man aus der Mitte betrachtet zwar als hier und da wackelige, aber insgesamt dann doch stabil demokratische Grundordnung versteht.

Dieser mit über einem Jahr Vorlauf geplante „Tag X“ sollte eine Demonstration der eigenen Stärke und vorempfundenen Rachegelüste werden. Zu fünf Jahren und drei Monaten Haft wurde Lina E. verurteilt. Das ahnten sie. Bereits Anfang Februar stand auf Indymedia: „Für jede/n Genoss:in und Gefährt:in und für jeweils jedes Jahr Knast, gibt es ab sofort 1 Million Sachschaden bundesweit!“ Eine andere Gleichung könnte so aussehen: Für jeden in Flammen stehenden Familienwagen steigt die AfD in der Wählergunst um Null-Komma-X Prozent. Die vielen rechten, als Presse getarnten YouTuber, werden dabei helfen und die ins Weltbild passenden Szenen liefern.

Der erste Knall, der erste Rauch, die ersten Bierflaschen und Steine des Abends, geworfen von halbstarken Vollidioten.
Der erste Knall, der erste Rauch, die ersten Bierflaschen und Steine des Abends, geworfen von halbstarken Vollidioten.Hendrik Schmidt/dpa

Würde man an einem, nennen wir ihn, Tag der offenen Polizeihubschraubertür hoch über Leipzig steigen und aus der Überflugtotalen nach zentralen Fragen für das Treiben da unten suchen, dann wäre das eine Option: Darf man Extremismus mit Extremismus bekämpfen? Oder das: Kann man zwischen guter und schlechter Gewalt unterscheiden? Oder einfach ganz banal: Was ist denn so falsch daran, Nazis auf die Fresse zu hauen?

In der taz stand dazu: „Wer gezielt Menschen zusammenschlägt, zumal so sehr, dass sie bleibende Schäden davontragen, überschreitet jede Grenze des Diskutablen.“ Und: „Es mag manchen schwerfallen, aber Menschenrechte gelten für alle – auch für Rechtsextreme.“

In der FAZ: „Vor allem für Sachsen gilt auch: Der Linksextremismus ist, was Gewaltbereitschaft und Vorgehensweise angeht, gerade die größere Herausforderung.“

„Wir kriegen euch.“ Wirklich?

Auf Twitter schrieb der linke Zwickauer Aktivist Jakob Springfeld, Autor des Buches „Unter Nazis“, dass er Gewalt zwar ablehne, aber wegen der Gefahr einer erstarkenden Rechten eine Diskussionsmöglichkeit anregen wolle, „ob und wann ein Punkt erreicht sein könnte, an dem militanter Antifaschismus legitim sein könnte“.

Das Aktionsnetzwerk „Leipzig nimmt Platz“ erklärte: „Neonazis können ganz offen ihre Gesinnung zeigen, während Antifaschist:innen sich überlegen, ob es überhaupt ratsam ist, Anzeige bei der Polizei zu stellen, in der Annahme, das ohnehin nicht ermittelt wird.“

Dabei hatte Sachsens Innenminister Armin Schuster (CDU) bereits bei der Vorstellung seines „Gesamtkonzepts Rechtextremismus“ Ende 2021 versprochen: „Wir kriegen euch.“

Die politische Lage ist, verdammt noch mal, unübersichtlich geworden.
Die politische Lage ist, verdammt noch mal, unübersichtlich geworden.Hendrik Schmidt/dpa

Das von fragwürdig milden Gerichtsurteilen gegen Nazis und von rechten Strömungen innerhalb der Polizei geprägte Gefühl unter Linksauslegern ist eher: Sie kriegen es nicht hin, sie wollen es nicht hinkriegen. Zumal nicht im Osten, wo man Antifa nicht pauschal mit Verachtung ausspricht, weil Antifaschismus in den Baseballschlägerjahren ff eine Zuflucht bot, Freiräume, manchmal eine Überlebensgarantie, als Nazis die Straßen beherrschten und Jugendclubs aufmischten. Und mit der AfD hatten diese damals noch keine ernstzunehmende Machtperspektive. Zur Erinnerung: Im kommenden Jahr finden in Thüringen, Sachsen und Brandenburg Landtagswahlen statt. Also dort, wo die AfD schon mal die stärkste Fraktion werden könnte.

Nur wenige Meter vom Leipziger Hauptbahnhof entfernt, befindet sich der Bürgermeister-Müller-Park, er gilt als sozialer Brennpunkt. Vor zwei Jahren erstach hier ein Somali einen anderen. Am nördlichen Ende wartet ein roter Doppeldeckerbus, Touristen drängeln sich davor, gleich beginnt die nächste Stadtrundfahrt, hopp on, hopp off, 90 Minuten für 20 Euro, aber ohne Halt in Connewitz.

Im Schatten der Bäume liegt ein Gedenkstein. Er ist zu groß, um geworfen zu werden, und zu klein, um wirklich aufzufallen. Man muss schon in die Knie gehen, um die Aufschrift zu lesen: „In Gedenken an die Opfer rassistischer und neonazistischer Gewalt in Leipzig“, steht da. Und: „Hier an diesem Ort wurde am 24.10.2010 das hoffnungsvolle Leben meines Sohnes Kamal, geboren am 19.7.1991, und das Glück meiner Familie durch die Tat zweier Neonazis zerstört.“ Der sei ihm noch nie aufgefallen, sagt ein Rundfahrticketverkäufer.

Seit der Wendezeit gab es bis zu 219 Todesopfer rechter Gewalt in Deutschland, vier Menschen starben nach linksmotivierten Angriffen. Im vergangenen Jahr kam es bundesweit zu 23.493 rechten Straftaten, Tendenz steigend, 6976 linke, Tendenz fallend. 1900 zu 1078 war das Verhältnis im Freistaat Sachsen.

Frage auf dem Weg zum „Tag X“: Wie viel hat dieses Aufrechnen von bedrohten und ausgelöschten Menschenleben mit Lina E. zu tun? Und Anschlussfrage: Wir waren Bundestrainer, Virologen, Panzerexperten und müssen wir jetzt alle Juristen werden, die zwischen Indizien und Beweisen, zwischen krimineller und terroristischer Vereinigung nicht unterscheiden können, aber die Dinge aus sicherer Entfernung so dahinmeinen, als wüssten wir es besser als ein Richter?

Die politische Lage ist, verdammt noch mal, unübersichtlich geworden. Man kommt sich zuweilen vor wie auf einer Straßenkreuzung bei Nebel plus Glatteis und dann ist nicht nur die Regierungsampelanlage ausgefallen, es herrschen auch noch Links- und Rechtsfahrgebot, beides gleichzeitig. Tja, und wie soll man da jetzt rüberkommen, ohne zwischen die Fronten oder unter die Räder zu geraten? Ist es letztlich vielleicht egal, ob man von einem linken Steinwerfer oder einem rechten Quarzhandschuhträger am Kopf getroffen wird?

„BRD-Bullenstaat, wir haben dich zum Kotzen satt“

Man nähert sich Connewitz am besten über die Karl-Liebknecht-Straße, großstädtisch korrekt zu „Karli“ verniedlicht. Wie an einer straff gezogenen Perlenschnur reihen sich hier Cafés, Bars, Dönerläden, Restaurants und Das-könnte-ich-auch-noch-haben-Läden aneinander und in den (noch) ruhigen Seitenstraßen renovierte Altbauten, in die man als links-grün-versippter Berliner ohne Statusverlust seinen Zweitwohnsitz verlegen könnte.

Je mehr Steine und Steinchen in den Gehwegen fehlen, je eindeutiger die T-Shirt-Aufdrucke („Keine Angst, nur Hass, Nazis schlagen!“) und Laternensticker („Lina E.hrenbürgerin“) werden, je mehr Polizeiwagen ihrem undurchsichtigen Einsatzplan folgen, desto näher kommt man Connewitz an diesem Tag. Und steht dann plötzlich vor einem Wasserwerfer, der kurz nach 17 Uhr den letzten Stadtrundfahrtbus blockiert.

Der familienfreundliche Alexis-Schumann-Platz, den die Karli in zwei Hälften teilt, ist bereits gut gefüllt, darüber spannt sich ein Himmel voller mit Erwartungen aufgeladener Adjektive. Der Mann hinter „Say it loud“ heißt Jürgen Kasek, ist Rechtsanwalt, grüner Stadtrat in Leipzig, und nun klappt es auch mit dem Mikro, er sagt: „Wir haben in Deutschland ein Problem – und das ist nicht der Antifaschismus!“ Applaus, natürlich. Und dann skandieren die eher Vermummten: „BRD-Bullenstaat, wir haben dich zum Kotzen satt!“ Problem: Es gilt das Vermummungsverbot, so kann hier niemand loslaufen. Keinen Meter weit werden sie kommen. Und man hat schon den Eindruck, dass die Polizei das genau so wollte.

Ein zumindest der allgemeinen Verunsicherung angemessen großer Einsatz mit Kontrollzonen und einem erhöhten Bedarf an Wasserwerfern.
Ein zumindest der allgemeinen Verunsicherung angemessen großer Einsatz mit Kontrollzonen und einem erhöhten Bedarf an Wasserwerfern.Hendrik Schmidt/dpa

Um 18.06 Uhr, that escaleted quickly, das leider Übliche, wohl Unvermeidliche: der erste Knall, der erste Rauch, die ersten Bierflaschen und Steine des Abends, geworfen von halbstarken Vollidioten, die sich sofort zurückziehen, wenn die angepeilten und ausgiebig gepolsterten Polizisten zum Gegensturm ansetzten, mit Gebrüll, was wirklich furchteinflößend klingt. Dann Kesselbildung, Festnahmen, unkontrollierter Schlagstockeinsatz, unnötige Polizeigewalt auch gegen Unbeteiligte. Spätestes jetzt ziehen sich alle, die gekommen waren, um gegen Nazis und für die Versammlungsfreiheit zu demonstrieren, in die Seitenstraßen zurück, wo sie aber auch nicht weiterkommen, Kessel eben.

Ein Vater mit „Fight Nazism“ auf der T-Shirt-Brust packt sein Kind ein und flucht: „Scheiß Antifa!“ Eine Frau mit schwarzer OP-Maske ist anderer Meinung: „Scheiß Bullen!“ Und viel besser kann man diesen „Tag X“, dessen Aufarbeitung – wer, wann, was zuerst zu Unrecht? – noch lange dauern wird, nicht zusammenfassen.

Man dachte ja vorher vielleicht, dass sich Nazis zur Gewalt ermutigt fühlen, wenn sie glauben, dass die Mitte der Gesellschaft sich nicht traut, sich zu wehren.

Jetzt denkt man eher: Man kann Extremismus nicht mit Extremismus bekämpfen. Es gibt keine gute Gewalt. Und manchmal, aber wirklich nur manchmal, möchte man einem Antifaschisten auf die Fresse hauen. Und dann aber schnell zum Bahnhof, wo der DB-DJ hoffentlich mehr „Naturespace Music“ zu bieten hat.