Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat als erstes deutsches Staatsoberhaupt vor dem Denkmal der Helden des Ghettos in der polnischen Hauptstadt Warschau eine Rede gehalten. Seine Worte blieben – verglichen mit den Reden anderer Gäste – jedoch blass und floskelhaft.
Erster Redner der Veranstaltung war der Holocaust-Überlebende Marian Turski. Der 96-Jährige sprach mit fester Stimme drei Punkte an. Erstens wolle man an diesem Tag die Bewunderung für die Kämpfer und die Bewohner des Ghettos zeigen. Zweitens wolle man Fragen stellen: „Wie konnte das passieren?“ Und: „Warum gibt es den Antisemitismus heute noch?“
Drittens kam Turski auf den Ukraine-Krieg zu sprechen. „Darf ich schweigen, wenn heute die russische Armee den Nachbarn angreift? (...) Darf ich schweigen, wenn ich das Schicksal von Butscha sehe?“ Viele Menschen im Publikum hatten Tränen in den Augen. Turski mahnte: „Leute, seid nicht gleichgültig.“ Er schloss seine Rede mit dem Satz: „Ich klage alle an, die den Hass schüren.“ Einfache, aber eindrucksvolle Worte, die dem Zuhörer im Gedächtnis bleiben.
Der polnische Präsident Andrzej Duda sprach anschließend. Er klang wütend, blickte viel zurück auf die grausame Vergangenheit, ehrte die Helden im Warschauer Ghetto und klagte an. „Das war Entmenschlichung“, so das polnische Staatsoberhaupt über die Verbrechen der Nationalsozialisten. „Die Wut wuchs“, sagte er und meinte die Bewohner des Warschauer Ghettos. Er hätte aber auch die Wut der Polen auf die Deutschen heute meinen können.
Denn: Das deutsch-polnische Verhältnis ist angespannt. Die Polen fordern von den Deutschen Reparationszahlungen für die Verbrechen gegenüber der polnischen Bevölkerung während des Zweiten Weltkriegs. Deutschland lehnt das ab.
Das Warschauer Ghetto um 1941Reinhard Schultz/imago
Auf Duda folgte eine eher versöhnliche Rede des israelischen Präsidenten, Jitzchak Herzog. Der Mut der Widerständigen liefere ein Fundament für die Verständigung der Völker. Er richtete seine Worte auch direkt an seinen deutschen Amtskollegen. Herzog dankte Steinmeier für seine „moralische Führung“.
Von „moralischer Führung“ war in Steinmeiers Rede allerdings wenig zu spüren. Hervorzuheben ist, dass der Bundespräsident mit jiddischen Worten einstieg. Die Sprache war weit verbreitet im Warschauer Ghetto. Dann aber jammerte er: Es sei „notwendig, aber schwer“ an diesen Ort an diesem Tag zu kommen. Klar, von ihm wurde viel erwartet, da er an dem Ort sprechen durfte, an dem Willy Brandt einst in jener außergewöhnlichen Geste auf die Knie fiel. Doch Selbstbespiegelung ist wirklich das Letzte, das man an solch einem Ort zu solch einem Anlass hören will.
Bildstrecke

Das POLIN-Museum in Warschau zeigt noch bis zum 8. Januar 2024 in der großen Sonderausstellung „Around Us a Sea of Fire“ das Schicksal jüdischer Zivilisten während des Aufstands im Warschauer Ghetto. Es folgt eine Bilderstrecke mit den Helden der Ausstellung (Quelle POLIN Museum).POLIN-Museum/Ausstellung „Around Us a Sea of Fire“

Eine der im POLIN-Museum porträtieren und zitierten Personen ist Stefania Fidelseid (1919-2001). Während des Aufstands floh sie aus einem brennenden Bunker in einen anderen. Sie versteckte sich auf Dächern oder lag unter Metallplatten, um sich vor den Deutschen zu verstecken. Im November 1943 gebar sie einen Sohn in einem Bunker. Das Kind starb wenige Tage später an Hunger. Stefania schaffte es, die Ghettomauer zu überwinden.Berliner Zeitung/POLIN-Museum

Michel Pachter (1923-2018): „Wir kommen, die Zeit zum Kämpfen ist jetzt“ - so erinnerte sich Michel Pachter an den Ausbruch des Aufstandes. Er trauerte um den Verlust seiner Eltern und seines Bruders, die im Januar 1943 nach Treblinka deportiert wurden. Gemeinsam mit seinem zweiten Bruder, Wilek, träumte er von Rache an den Deutschen. Sie versteckten sich in einem Bunker während des Aufstands. Nachdem der Bunker entdeckt worden war, wurden sie nach Treblinka geschickt. Anschließend wurden sie in andere Lager geschickt, die sie überlebten.Berliner Zeitung/POLIN-Museum

Mira Piżyc (1922-2003): Mira Piżyc erinnerte sich so: „Mir wurde klar, dass meine Rettung in meinen Händen lag (...) Seltsamerweise begann ich zu glauben, dass wir es irgendwie schaffen werden, zu überleben.“ Ihre Entscheidung, sich in einem Bunker zu verstecken, anstatt sich dem Transport anzuschließen, rettete ihr und ihrem Vater das Leben.Berliner Zeitung/POLIN-Museum

Das POLIN-Museum hat mehrere weiße Flächen an die Wand gehängt – für die Helden, von denen es kein Bild gibt. So zum Beispiel für „Marylka“. So lautet der Name, den eine junge Frau in ein Tagebuch schrieb. Als der Kampf im Ghetto begann, versteckte sich Marylka in einem Bunker. Am 27. April hielt sie fest, dass dort oben nur noch schwelende Ruinen und Leichen zu sehen waren. Ihr Tagebuch hört an diesem Punkt auf.Berliner Zeitung/POLIN-Museum

Yeshayahu Sewek Okonowski (1920-1943?): Sewek wurde von den Deutschen gefangen genommen. Ihm gelang es, vor dem Transport zu fliehen, der auf das Lager zusteuerte. Er notierte seine Kriegserfahrungen in einem Notizbuch. Der letzte Eintrag ist vom 20. Oktober 1943.Berliner Zeitung/POLIN-Museum

Hena Kuczer (geb. 1932): Die Familie Kuczer baute einen Bunker unter einem Haus in der Zamenhofa Straße. Obwohl ein Teil des Bunkers eingestürzt war, versteckten sich dort bis zum 23. September 1943 mehr als ein Dutzend Menschen.Berliner Zeitung/POLIN-Museum

Lazarz Menes (1910-1979): Zusammen mit seinen Eltern wurde er gezwungen, in das Ghetto zu ziehen. Dort wurde er Mitglied der jüdischen Polizei.Berliner Zeitung/POLIN-Museum

Symcha Binem Motyl (1909-1994): Symcha Binem Motyl wurde zusammen mit seiner Frau Necha und ihrer fünfjährigen Tochter im Ghetto inhaftiert. Er engagierte sich beim Schmuggel von Waren und auch von Menschen, die auf die „arische“ Seite flohen. Necha besuchte ihren Mann am Vorabend des Aufstandes. Sie schaffte es nicht, das Ghetto zu verlassen.Berliner Zeitung/POLIN-Museum
Steinmeiers Worte klangen wie zusammengesetzte Versatzstücke aus dem Floskelbuch. Ein Beispiel: „Die Heldinnen und Helden haben unvorstellbaren Mut gezeigt“. Man wollte Steinmeier hier zurufen: Name it! Zähl die Verbrechen doch auf! Ein weiteres Beispiel: „Ihr Mut strahlte auch hinein in die Gegenwart.“
Die Helden allerdings sind bedauerlicherweise keine Vorbilder für deutsche Kinder, weil diese sie nicht kennen. Es ist ein Versäumnis der Bildungspolitik, dass in deutschen Schulen Namen wie Marek Edelman oder Rachela Auerbach unbekannt sind. Ein letztes Beispiel: „Wir Deutsche wissen um unseren Auftrag.“ Wissen „wir“ das wirklich? Der Antisemitismus in Deutschland nimmt jedes Jahr zu. Erst vor einer Woche riefen Palästinenser auf einer Demo mitten in Berlin lauthals, „Tod den Juden“, und niemand schritt ein.
Floskeln und Phrasen: Bundespräsident Steinmeier während seiner Rede.AP
Steinmeier sprach viel von dem „Wunderwerk der Versöhnung“ zwischen Polen und Deutschen, doch diese Versöhnung ist nicht vollkommen, wie man angesichts vieler Konflikte zwischen den beiden Ländern immer wieder feststellen muss. Und wo ist das Denkmal für die Verbrechen an Polen und polnischen Juden in Berlin? Müsste Berlin nicht eine symbolische Partnerschaft mit Warschau schließen angesichts der Verbrechen, die Deutsche in der Stadt verübt haben?
Steinmeier hat die historische Chance verpasst, die Geste der Versöhnung, die die Polen den Deutschen mit der Einladung offerierten, zu erwidern.