Kommentar

Nach Steinmeier-Eklat: Deutschlands neue Rolle als beleidigte Leberwurst

Beschämend: Deutsche Politiker maßregeln lieber die ukrainische Regierung für ihr schlechtes Betragen. Unterdessen geht der russische Vernichtungskrieg weiter.

Bundeskanzler Olaf Scholz
Bundeskanzler Olaf Scholzimago/Thomas Trutschel

Berlin-In schwierigen Zeiten warten Politiker gern auch mal so lange ab, bis ihnen die Entscheidung abgenommen wird. Eine bewährte Methode, um nicht ins Risiko gehen zu müssen. Wenn’s gut läuft, lässt sie das richtig gut aussehen. Für Fehler sind sie dann nicht mehr verantwortlich. Seit Beginn des russischen Vernichtungskriegs gegen die Ukraine bieten sich auch in Deutschland etliche Anlässe zur politischen Entscheidungsvermeidung. So könnten wir vielleicht schwere Waffen in die Ukraine liefern, wenn sie nicht vorher aus Litauen oder Polen kämen oder am besten aus Amerika. Auch wären Energiesanktionen gegen Russland möglich, aber unbeliebt, weshalb uns doch lieber Putin den Gashahn zudrehen sollte …

Sonderpädagogik für deutsche Befindlichkeiten

Wenn’s gut läuft, treiben unsere Politiker das Spiel so lange, bis dem Gegenüber, also den Ukrainern, das fadenscheinige Unschuldsgetue endlich reicht. Bis Wolodymyr Selenskyj unseren Bundespräsidenten zur unerwünschten Person in Kiew erklärt. Bis also der ukrainische Präsident selbst einen prächtigen Vorwand liefert, dass wir uns nicht länger mit der Vernichtung seines Landes beschäftigen – und den Völkermord einfach geschehen lassen. Was für ein unwürdiges, armseliges Schauspiel: Auf einmal sind deutsche Politiker hellwach und holen zur vollumfänglichen Gegenempörung aus. Frank-Walter Steinmeiers Ausladung sei ein „Affront gegen unser Staatsoberhaupt“ und ziele damit auf alle Deutschen.

Und schon hatte sich, was bis dahin als unerquickliche Gemengelage erschien, wie von alleine entschieden. Allem voran, dass nun auch Olaf Scholz nicht mehr in die Ukraine reisen konnte, in ein Land, das soeben unser Staatoberhaupt ausgeladen hat – weshalb dem nicht gerade entscheidungsfreudigen Bundeskanzler die dort wohl unvermeidlichen Gespräche über deutsche Waffenlieferungen erspart bleiben. Was für eine elegante Ausrede: Scholz würde Steinmeier durch sein Kommen brüskieren. Vor diesem Hintergrund musste dann auch der Vorschlag folgerichtig erscheinen, dass von nun an nur noch beide nach Kiew reisen können. Nennen wir das mal Sonderpädagogik für deutsche Befindlichkeiten.

Den kleinrussischen Pöbel in Kiew maßregeln

Deutschland erfindet derzeit seine politische Rolle neu: als beleidigte Leberwurst. Ob wir mit unserer aufreizenden Zögerlichkeit möglicherweise Anlass zu der einen oder anderen Beschwerde gegeben haben und woher das Misstrauen Kiews (und anderer Osteuropäer) gegen uns Deutsche kommt – all das müssen wir uns dann nicht mehr fragen. Im Gegenteil, wir wähnen uns durch die Ausladung Steinmeiers gegenüber der Ukraine sogar im moralischen Recht. So wie es unübertroffen deutlich Wolfgang Kubicki formulierte: Er habe zwar jedes Verständnis für die politische Führung der Ukraine, so der stellvertretende FDP-Vorsitzende, das Land kämpfe schließlich um sein Überleben. „Aber alles hat auch Grenzen.“

Der Krieg und Angela Merkels Anteil daran

Von Christian Schlüter

13.04.2022

Wer frech zu uns ist, darf nicht mit Hilfe rechnen und muss – ja, was? Untergehen? „Es wäre sehr schön, wenn Herr Selenskyj ein Einsehen hat und auf den Boden der Realitäten zurückkehrt“, stellt Kubicki väterlich streng klar. Ob sich der ungezogene Junge in Kiew nicht auch noch entschuldigen sollte? Der deutsche Paternalismus ist beschämend! Wir wollen uns mehr über Selenskyjs „Affront“ empören als über Putins Vernichtungskrieg. Unbekümmert betreiben unserer Spitzenpolitiker die moralische Schuldumkehr. Das geht so weit, bis der kleinrussische Pöbel dann auch noch von oben herab für seine fehlenden Manieren gemaßregelt werden kann. Als sei sonst nichts anderes geschehen.

Doch um wieder auf den „Boden der Realitäten“ zurückzukommen: Der Ukraine zu helfen, ist nicht nur ein moralisches Gebot, über das wir ausgiebig räsonieren können, sondern liegt politisch im eigensten Sicherheitsinteresse Deutschlands. Das Ziel liegt kann nicht sein, Putin zu beschwichtigen, sondern liegt darin, dass Putin den Krieg verliert. Einen Krieg, den er weit über die Grenzen der Ukraine hinaus gegen Europa führt: Der russische Präsident will unsere Spaltung. „Wir müssen jetzt endlich anfangen, der Ukraine das zu liefern, was sie braucht, und das sind auch schwere Waffen“, fordert Anton Hofreiter. Deutschland müsse aufhören, das Energieembargo insbesondere bei Öl und Kohle zu blockieren.

Der Grüne weiß sogar, woran es hapert: „Das Problem ist im Kanzleramt.“ So deutlich formulieren es auch andere Ampelkoalitionäre: Wo bleibt die Zeitenwende? Warum zögert Olaf Scholz? Hat er gute Gründe dafür und wann teilt er sie uns mit? Deutschlands und Europas Zukunft steht auf dem Spiel: Es gibt keine Zeit und keinen Raum mehr für Fehler.