Die Frage ist eigentlich ganz einfach, die Antwort auf den ersten Blick auch – tatsächlich ist sie jedoch vielgestaltig und differenziert. „In welcher Stadt wollen wir leben?“, fragt die Berliner Zeitung.
Um das zu erkunden, kamen am Montagabend Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD), Journalistin und Menschenrechtsaktivistin Düzen Tekkal, Entertainer und Flüchtlingshelfer Klaas Heufer-Umlauf, Journalistin Eva Schulz, Cordula Heckmann, Direktorin der Neuköllner Rütli-Schule, und Moritz Eichhorn, Politikchef der Berliner Zeitung, zusammen. Der Ort war ein historischer: das ehemalige Staatsratsgebäude am Schlossplatz, heute Sitz der privaten Universität ESMT, besucht von Studenten aus mehr als 80 Nationen.
Wäre es am Abend und mit Blick auf den berühmten Liebknecht-Balkon, von dem Karl Liebknecht 1918 die sozialistische Republik ausgerufen hat, nur nach Franziska Giffey gegangen, wäre die erste Antwort auf die Frage sicher ganz leicht: Na, in Berlin natürlich, wo denn sonst. Doch so einfach war es nicht.

Moderator Jo Schück an Franziska Giffey: „Ist es Ihnen auch peinlich, dass Berlin zum Lästerobjekt der Republik geworden ist?“
Eine erste Bestandsaufnahme nahm der Fernsehmoderator Jo Schück vor, der die Runde durch den Abend führte. Er gehöre nicht zu denjenigen, die von einer gespaltenen Gesellschaft reden, so Schück. Aber er stellte fest: „Der soziale Kitt muss hergestellt werden.“ Und fragte dann Franziska Giffey, ob es ihr auch peinlich sei, dass Berlin zum „Lästerobjekt der Republik“ geworden sei?
Das konnte und wollte die wahlkämpfende Politikerin so nicht stehen lassen. Berlins Regierende sprach von „besonders verdichteten Problemlagen“ wie Corona oder Krieg, die die Stadt und die Politik vor große Herausforderungen stelle. „Ich sage nicht, dass alles perfekt ist“, so Giffey. Aber man dürfe nicht den Fehler machen, ein allgemeines Bild einer dysfunktionalen Stadt zu malen. „Berlin ist immer noch die Stadt der Möglichkeiten und der Freiheit.“ Hier könne man sein, wer man sein wolle, denken, was man wolle, lieben, wen man wolle.

Journalistin Eva Schulz: Bei der Digitalisierung hat Berlin großen Aufholbedarf
Das konnte so natürlich nicht stehenbleiben, jedenfalls nicht komplett widerspruchslos. Eva Schulz berichtete von einem Aufenthalt in Paris, dem Gefühl: „Boah, hier würde ich gerne wohnen.“ Im selben Moment sei ihr aufgefallen, dass viele junge Pariser genau dasselbe von Berlin sagen würden. Und dennoch, so sagte die 33-jährige Moderatorin und Webvideoproduzentin: „Berlin hat bei der Digitalisierung großen Aufholbedarf.“
Düzen Tekkal, die seit langem für die Rechte der Frauen im Iran kämpft und arbeitet und seit Monaten angesichts der täglichen Nachrichten manchmal verzweifeln mag, erwies sich als Kämpferin für Integration. Sie selbst, neben neun Geschwistern in Hannover aufgewachsen, „ohne Bücher, mit einer Mutter, die nicht lesen und schreiben kann“, habe das Glück gehabt, in einem Umfeld aufgewachsen zu sein, in dem das Gemeinsame im Vordergrund stand, nicht das Trennende. „Ich liebe die Vielfalt Berlins“, sagte sie, es sei „eine Stadt der Chancen, aber auch der Herausforderungen“. Dennoch müsse immer wieder daran erinnert werden, dass man Gewalt nicht ethnitisieren solle, dass der soziale Ansatz im Vordergrund stehen müsse.
Klaas Heufer-Umlauf berichtete von seinem Engagement für Geflüchtete. Wofür brauche man Berlin als Hauptstadt, fragte er. Seine Antwort: „Von dieser Stadt sollte eine Signalwirkung ausgehen – das Gegenteil ist offenbar der Fall.“ Für ihn sei der Schüssel zu mehr bürgerlichem Engagement ganz einfach: politische Kommunikation. Die Politik müsse aktiver sein, mehr fördern. Dafür gebe es gute Beispiele, etwa als nach einigen Wochen Chaos am Hauptbahnhof angesichts täglich Tausender dort eintreffender ukrainischer Kriegsflüchtlinge, der Senat eingegriffen habe. „Das war ein gutes Gefühl.“ Davon brauche es mehr, es müssten mehr „signalgebende Momente“ von Berlin aus geschickt werden – „das ärgert Markus Söder noch mehr“.

Die Direktorin der Neuköllner Rütli-Schule vermisst die Politik
Einen vertieften Einblick in den Berliner Alltag gab Cordula Heckmann, Direktorin der Rütli-Schule in Neukölln, seit mehr als anderthalb Jahrzehnten Brennpunkt, aber eben auch Vorbild in der hauptstädtischen Schullandschaft.
„Zwischen Terrorschule und Leuchtturm gibt es eine Mitte“, sagte Heckmann, und an dieser habe die Schule hart gearbeitet. Deswegen sei die Debatte um die Konsequenzen aus den Silvester-Krawallen so fatal. „Es schmerzt.“ Eine Vornamen-Debatte oder ein Pascha-Spruch mache die Sache nur noch schwieriger, denn: „Wir brauchen die Schüler an unserer Seite. Wir müssen sie zurück aufs Feld holen.“ Dafür seien Eskalation und Skandalisierung schädlich.
Doch jetzt, fast am Ende ihrer Schullaufbahn, stelle sie sich zunehmend die Frage: Wo ist die Steuerung der Politik, so Heckmann. Wie wird gesellschaftliches oder auch ehrenamtliches Engagement in staatliches Handeln übersetzt? „Ist die Politik schnell genug?“





