Zwei Jahre nach dem Abzug der Bundeswehr aus Kabul fordert Berlins Integrationsbeauftragte mehr Aufnahmebereitschaft für Flüchtlinge aus Afghanistan. Trotz Zusage aus Deutschland warteten weiterhin etwa 14.000 gefährdete Menschen in Afghanistan auf ihre Ausreise. Deutschland müsse seiner Verantwortung gerecht werden. Doch wie realistisch ist das?
Am 15. August 2021 wurde die afghanische Hauptstadt Kabul von den Taliban erobert. Die Situation im Land hat sich seitdem dramatisch verschlechtert. Mädchen und Frauen wurden ihrer Rechte und Freiheiten beraubt. Menschen, die sich gegen das islamistische und frauenfeindliche Regime wehren, drohen Haft, Folter und Hinrichtung.
Für Katarina Niewiedzial ist die Sache klar. Die Beauftragte des Berliner Senats für Integration und Migration fordert, dass „die Bundesregierung, aber auch das Land Berlin ihrer Verantwortung gerecht werden“. Berlin sei als Teil der Internationalen Allianz Sicherer Häfen „natürlich in der Lage, Menschen aus Afghanistan, wie im 2021 verabschiedeten Landesaufnahmeprogramm zugesagt, aufzunehmen“, betonte Niewiedzial in einer Mitteilung zum zweiten Jahrestag.
Im Kern geht es darum, dass die Bundesregierung vor zwei Jahren mehr als 40.000 besonders gefährdeten Afghanen sowie ihren berechtigten Familienangehörigen eine Aufnahme in Aussicht gestellt hat. Darunter sind gut 24.800 ehemalige Ortskräfte und ihre Familien, außerdem mehr als 15.300 weitere Afghanen, die wegen ihres Einsatzes für Demokratie in dem von den Taliban regierten Land als besonders gefährdet gelten.
Auch Amnesty International und Reporter ohne Grenzen fordern wegen der sich verschlechternden Menschenrechtslage eine schnelle Umsetzung des Bundesaufnahmeprogramms. „Jeder zusätzliche Tag, an dem eine von den Taliban verfolgte Person auf die sichere Ausreise nach Deutschland warten muss, bedeutet für sie ein Risiko und kann sie im schlimmsten Fall das Leben kosten“, sagte Theresa Bergmann, Asien-Expertin bei Amnesty, laut einer Mitteilung.

Berlins Integrationsbeauftragte sieht insbesondere ihren Arbeitgeber, den Berliner Senat, in der Pflicht. So beschloss die Landesregierung wenige Tage nach der Übernahme der Macht durch die Taliban ein spezielles Landesaufnahmeprogramm für Menschen aus Afghanistan: 500 besonders schutzbedürftige Menschen, darunter Medien- und Kunstschaffende, Menschenrechtlerinnen und Menschenrechtler sowie Oppositionelle, sollten in Berlin über einen Zeitraum von fünf Jahren eine sichere Zuflucht finden. Heute sagt Niewiedzial: „In den letzten zwei Jahren wurde in Berlin keine einzige Person im Rahmen dieses Programms aufgenommen.“
Dabei habe die Stadt außergewöhnlich gute Voraussetzungen. Niewiedzial führt in ihrer Mitteilung die „aktive afghanische Zivilgesellschaft“ auf, mit der sie „vertrauensvoll zusammenarbeitet, um Ankommens-, Beratungs- und Teilhabeprozesse zu unterstützen“.
Auch der zum Außenpolitiker gewandelte frühere Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) kritisiert anlässlich des Jahrestages die schleppende Rettung von Afghanen, die für die Bundeswehr und andere deutsche Organisationen in dem Land gearbeitet haben. Dies sei ein „trauriges Kapitel“, sagte der Vorsitzende der Enquete-Kommission des Bundestags „Lehren aus Afghanistan“ dem Tagesspiegel. „Ich habe großes Verständnis dafür, dass die Bundesregierung wissen will, wer ins Land kommt. Sicherheitsverfahren sind richtig, aber sie müssen schneller umgesetzt werden“, mahnte Müller.
Auch Ralf Stegner (SPD), der Leiter des Untersuchungsausschusses Afghanistan im Deutschen Bundestag, äußert sich im ZDF-Interview durchaus selbstkritisch. Er fordert, die „humanitären Spielräume zu maximieren“. Die Gefährdungslage der Ortskräfte sei unterschiedlich. Doch der Eindruck dränge sich auf, dass vor die Wahl zwischen Bürokratie und Humanität gestellt, die Deutschen sich im Zweifel für die Bürokratie entschieden. Seine Beobachtung: Die Amerikaner hätten 2021 „burschikoser geholfen, als das für Deutschland zutrifft“.



