Geflüchtete in Berlin

Marokko, Ukraine, Berlin: Krieg stiehlt geflüchteten Studierenden die Zukunft

Russlands Angriff überraschte Studierende aus Drittländern an ukrainischen Hochschulen. Viele flohen nach Berlin und leben jetzt unter prekären Bedingungen.

Easy und Faith (r.) stammen aus Marokko, haben in Charkiw Medizin studiert. Sie sind nun in Berlin gestrandet.
Easy und Faith (r.) stammen aus Marokko, haben in Charkiw Medizin studiert. Sie sind nun in Berlin gestrandet.Benjamin Pritzkuleit

Es falle ihr schwer, sich Gedanken um die Zukunft zu machen, nachdem alles zerbrochen ist, sagt Faith. Sie sitzt gemeinsam mit ihrer Freundin Easy auf einer Bierbank vor dem Stand für aus der Ukraine geflohene PoC und Queere am Berliner Hauptbahnhof. Die Abkürzung PoC steht für Person of Colour, also Menschen mit einer nichtweißen Hautfarbe. Faith, 28, und Easy, 24, stammen aus Marokko. Sie sind beide nicht heterosexuell. Sie wollen deshalb nur ihre Spitznamen verraten. Faith hat Familie in Deutschland. Die soll nichts von ihrer queeren Sexualität erfahren.

Die beiden Marokkanerinnen lebten bis zum 24. Februar in der nordöstlichen Millionenstadt Charkiw, unweit der Grenze zwischen der Ukraine und Russland, mehrere Jahre lang ein ruhiges Leben. So beschreiben sie es. Faith ist mit der Schwester von Easy liiert. Sie teilten sich zu dritt eine Wohnung in einem Studierendenwohnheim in Charkiw.

Das Studium in Charkiw war anspruchsvoll

Das Studium an der medizinischen Hochschule von Charkiw sei anspruchsvoll gewesen. Es habe sie rund um die Uhr beschäftigt, erzählen sie. Während der Lockdowns in der von der Pandemie besonders gebeutelten Ukraine hätten sie kaum Gelegenheit gehabt, das Wohnheim zu verlassen. Außerdem seien ihre Mittel zu begrenzt gewesen, um in der ukrainischen Universitätsstadt mit 42 Hochschulen und Zehntausenden von jungen Menschen aus aller Welt feiern zu gehen.

Die Lebenshaltungskosten in der Ukraine sind wesentlich niedriger als in EU-Ländern. Neben großzügigen Visaregelungen für Studierende und einer hohen Qualität der Lehre machte die Erschwinglichkeit des Studiums die Ukraine zu einem beliebten Hochschulstandort für angehende Akademiker aus ärmeren Ländern auf der Südhalbkugel der Erde.

Die Ukraine war ein beliebter Hochschulstandort

Große Sprünge konnten sich Studierende aus Ländern wie Nigeria, Marokko oder Indien aber auch in der Ukraine meist nicht erlauben. Ihre Eltern kratzen oft alles Ersparte zusammen für die berufliche Zukunft ihrer Kinder. Die Ukraine bedeutete für Mittelschichtfamilien im globalen Süden eine Chance auf eine europäische Ausbildung für ihre Kinder im Rahmen des Budgets. Die Unesco schätzt die Zahl der Drittstaatler an ukrainischen Hochschulen auf 60.000.

Der Krieg im Donbass schien ihnen und ihren Eltern bei der Entscheidung für ein Studium in der Ukraine offenbar fern zu sein. Das änderte sich am frühen Morgen des 24. Februar. Knapp zwei Monate nach dem Beginn des russischen Angriffs werde sie immer noch jeden Morgen um vier Uhr wach, erzählt Faith. Adrenalin pumpe dann durch ihren Körper. Die ersten russischen Raketen schlugen an diesem Februar-Tag um vier Uhr morgens in Charkiw ein.

Der Zug hielt in der Dunkelheit von Kiew

Die drei Marokkanerinnen flohen mit dem Zug am 27. Februar aus Charkiw. Sie erinnern sich an die Dunkelheit in Kiew. Ihr Zug habe stundenlang in der Nacht am dortigen Hauptbahnhof Halt gemacht, erzählen sie. Die Behörden hatten in den ersten Kriegstagen die Verdunkelung der Hauptstadt in der Nacht angeordnet. Die Passagiere hätten sogar in den Zügen ihre Smartphones ausgeschaltet. Dicht gedrängt und ohne etwas sehen zu können, hörten sie die russischen Raketen einschlagen.

Mein Onkel aus Frankfurt holte uns an der Grenze ab.

Faith, Geflüchtete

Die Flucht endete am 29. Februar in der Slowakei. „Mein Onkel aus Frankfurt holte uns an der Grenze ab und brachte uns nach Deutschland“, sagt Faith. Die queeren Frauen haben es nicht lange ausgehalten bei dem konservativen Onkel. Sie standen ohne Plan und Übernachtungsmöglichkeit schließlich einige Tage später vor dem Stand für PoC und LGBT aus der Ukraine am Berliner Hauptbahnhof.

Die Universität versuchte zu beruhigen

Easy öffnet ein Video auf ihrem Smartphone. Es zeigt eine Ukrainerin mittleren Alters in einer Traube junger Menschen unterschiedlicher Hautfarbe. Die Szene habe sich einige Tage vor Kriegsbeginn abgespielt, erzählt sie. Die Dekanin der medizinischen Hochschule versucht, die erregten Studierenden zu beruhigen. „Wir haben verlangt, dass sie uns unsere Studienleistungen beglaubigt, weil unsere Botschaften uns zum Verlassen des Landes aufgefordert haben. Sie sagte, es gebe keinen Grund zur Sorge, alles sei sicher“, sagt Easy. Jetzt haben die beiden nur noch die Zeugnisse aus den ersten Semestern, die sie vor ihrer Flucht zum Bahnhof von Charkiw in ihrer Wohnung fanden.

Im Vergleich zu Marokko ist es in Charkiw der Himmel.

Easy, Geflüchtete

Noch etwas anderes ließen sie in Charkiw zurück. Die queeren Frauen fühlten sich in der Ukraine sicher. „Vielleicht ist die Ukraine weniger offen für LGBT als Deutschland, aber im Vergleich zu Marokko ist es in Charkiw der Himmel“, sagt Easy. Sie erzählen wie auch andere internationale Studierende von der Trennung der Ausländer von den ukrainischen Frauen und Kindern auf der Flucht. Ukrainerinnen und ihre Kinder seien etwa am Bahnhof von Charkiw bevorzugt worden, schildern die beiden Marokkanerinnen.

Faith und Easy sehen die Frage nach dem Rassismus im Krieg differenziert. „Einmal wollte man uns nicht in einen Bunker lassen. Es hieß, wir sollen in den Keller im Studierendenwohnheim gehen. Dabei gab es dort keinen“, erzählt Easy. Sie seien in anderen Bunkern aber willkommen geheißen worden. „Ehrlich, ich habe mir überlegt, die Ukraine zu verteidigen. Wir hatten dort ein Leben“, sagt Faith. Und ein Studienabschluss an der Charkiwer Hochschule versprach auch eine Zukunft. Das ist vorbei.

Die Zukunft ist ungewiss

Wie es für Studierende aus Drittstaaten in Deutschland weitergeht, ist unklar. Wer Optimist ist, mag erkennen, dass sich möglicherweise Lösungen für die jungen Menschen abzeichnen. So verlängerte der Bund die Frist für einen visafreien Aufenthalt für die internationalen Studierenden von Ende Mai bis Ende August.

Vier Monate sind allerdings ein überschaubarer Zeitraum angesichts der Hürden, die auf dem Weg zu einer Aufenthaltsgenehmigung für ein Studium in Deutschland zu überwinden sind. Voraussetzung sind zum einen Deutschkenntnisse auf dem Sprachniveau B2. Es soll genügen, um komplexe Sachverhalte zu verstehen und sich selbstständig ausdrücken zu können. Zum anderen verlangt Deutschland, dass Studierende ein Stipendium, einen Bürgen oder 10.300 Euro auf einem Sperrkonto vorweisen können. Die Summe gilt dann als Nachweis für einen gesicherten Lebensunterhalt.

Die wenigsten der Studierenden verfügen aber über entsprechende Ersparnisse oder haben Eltern, die mehr als 10.000 Euro aus dem Ärmel schütteln könnten. Sich eine Arbeit suchen, um das Geld zu verdienen, ist in der Regel auch keine Option. Selbst Studierende mit einer Berufsausbildung haben wenig Chancen. Deutschland müsste zunächst ihre Qualifikationen anerkennen. Ohnehin haben Studierende eher selten einen abgeschlossenen Job in der Tasche, wenn sie an die Universität gehen. Ungelernte Tätigkeiten genügen aber nicht für eine Aufenthaltsgenehmigung zur Erwerbstätigkeit.

Flüchtlingsrat plädiert für mehr Kurse

Organisationen wie der Flüchtlingsrat Berlin plädieren dafür, die Regeln zum Nachweis der Lebensunterhaltssicherung für die Drittstaatler auszusetzen und Stipendienprogramme auszuweiten. Sie fordern außerdem mehr Deutschkurse und studienvorbereitende Programme für die Betroffenen. Schätzungen der Hochschulrektorenkonferenz zufolge begrenzt sich die Zahl der aus der Ukraine geflüchteten internationalen Studierenden auf eine niedrige vierstellige Zahl in der gesamten Bundesrepublik.

Wir waren dabei, etwas aufzuatmen nach zwei Jahren Pandemie.

Beatrix Gomm, Studierendenwerk

Einige der in Berlin gestrandeten Studierenden haben sich in den vergangenen Wochen an die Berater des Berliner Studierendenwerks gewandt. Die Bereichsleiterin der Sozialberatung des Studierendenwerks, Beatrix Gomm, berichtet, dass die Mitarbeiter gleich nach dem russischen Angriff Ende Februar eine Taskforce zur Ukraine gebildet haben. „Wir waren dabei, etwas aufzuatmen nach zwei Jahren Pandemie, aber dann kam der Krieg“, sagt Gomm.

Anne Eisank (l.) und Beatrix Gomm vom Studierendenwerk Berlin
Anne Eisank (l.) und Beatrix Gomm vom Studierendenwerk BerlinBenjamin Pritzkuleit

Sie berichtet von „erschütternden Fällen“. Vor allem der als diskriminierend erlebte Grenzübertritt habe sich bei vielen als traumatische Erfahrung eingeprägt.

Wir wissen auch, wo unsere Grenzen sind.

Anne Eisank, Studierendenwerk

„Was wir hören, macht betroffen“, sagt die Beraterin Anne Eisank. Die Studierenden habe sie in ihren Gesprächen dennoch als gefasst erlebt. Die Frage, wie das vom Krieg jäh unterbrochene Studium nun fortgesetzt werden könnte, überlagere alles. Eisank legt ein Papier auf den Tisch in einem Besprechungsraum des Studierendenwerks. Darauf sind die Kontaktdaten von Rechtsberatungen, die etwa die Arbeiterwohlfahrt anbietet, vermerkt. „Wir wissen auch, wo unsere Grenzen sind“, sagt Eisank.

Berlin ist attraktiv für Studierende

Beatrix Gomm lässt keinen Zweifel daran, dass Berlin besonders gefordert ist, im Umgang mit den aus der Ukraine geflüchteten internationalen Studierenden Lösungen zu finden. Berlin sei zunächst der Ort, an dem die meisten aus der Ukraine Geflüchteten aufgrund der geografischen Nähe zu Polen deutschen Boden betreten hätten. „Berlin ist mit seinen 14 staatlichen und zahlreichen privaten Hochschulen ohnehin besonders attraktiv für Studierende aller Welt“, meint Gomm. Hinzu käme der Ruf Berlins als besonders offene und tolerante Metropole.

Der Senat sei deshalb nun gefragt und denke auch schon über Hilfen nach, schildert Gomm. Ein Zuschuss könnte die Hürde, 10.300 Euro auf einem Sperrkonto als Nachweis für einen gesicherten Lebensunterhalt zusammenzubekommen, abmildern. Die Hochschulen wiederum intensivierten Bemühungen, die Studierenden mit Sprachkursen fit zu machen für den Universitätsalltag. Der Erwerb der deutschen Sprache sei trotz vieler englischsprachiger Angebote für viele Studiengänge Voraussetzung.

Studierende sind Fachkräfte

Gomm hofft auf die Einsicht, dass Deutschland durch die Ausbildung der geflüchteten Studierenden auch gewinnen kann. Entweder kehrten die Akademiker mit ihrem Abschluss in die Heimatländer zurück und brächten dort Entwicklung voran oder verblieben als Hochqualifizierte in Deutschland. „Ich denke an den Fachkräftemangel“, sagt Gomm.

Neben den Gesprächen im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg muss die Beratungsstelle ihr übliches Angebot stemmen. Und auch Studierende mit ukrainischer Staatsangehörigkeit kämen mit drängenden Fragen. Doch die Lage der Drittstaatler unter den geflüchteten Studierenden sei besonders prekär, betont Beatrix Gomm. Es gebe Fälle von Obdachlosigkeit.

Easy und Faith droht Obdachlosigkeit

Auch Easy und Faith könnten im Mai auf der Straße stehen. Sie schliefen derzeit bei Unterstützern aus der LGBT-Szene, erzählen sie. Aber das sei nur vorübergehend. Ihre Tage in Berlin vergingen im Takt der Wartezeiten auf verschiedenen Ämtern. An eine Fortsetzung ihres Studiums vielleicht schon zum Wintersemester im Herbst glauben sie nicht. Die Hürden scheinen im Moment schwindelerregend hoch zu sein. „Wir würden gerne arbeiten, um über die Runden zu kommen. Wir machen uns im Moment Sorgen um Essen und um einen Schlafplatz“, meint Faith.

Zurück nach Marokko wollen Faith und Easy auf keinen Fall. Marokko sei für sie als queere Frauen die Hölle gewesen.