Kommentar

Kriegsverbrechen von Butscha: Das Weltstrafgericht muss aufklären

Der Westen muss auf die entsetzlichen Bilder von bei Kiew ermordeten Zivilisten reagieren, mit neuen Sanktionen und Waffen – aber nicht mit Kriegseintritt.

Butscha: Ein ukrainischer Soldat steht an einer Straßenblockade und hält die ukrainische Flagge hoch.
Butscha: Ein ukrainischer Soldat steht an einer Straßenblockade und hält die ukrainische Flagge hoch.AP/Rodrigo Abd

Berlin-Es ist nahezu unmöglich, angesichts der grausamen Bilder aus dem Kiewer Vorort Butscha die Fassung zu wahren. So viel Gewalt, so viel Brutalität. Offenkundig hingerichtete Zivilisten, manche sollen Folterspuren aufweisen. Ein Passant auf dem Fahrrad – erschossen. Massengräber von Zivilisten. Berichte von Vergewaltigungen. In den vielen ausgebrannten Panzern werden Menschen verbrannt sein, vermutlich junge Russen, die in einen Aggressionskrieg gegen ein Nachbarvolk geschickt wurden.

Nato-Generalsekretär Stoltenberg spricht von „Brutalität gegen Zivilisten, wie wir sie in Europa seit Jahrzehnten nicht erlebt haben“. Es sei an Srebrenica erinnert, wo im Juli 1995 Serben mehr als 8000 Bosniaken, Zivilisten, hingerichtet haben.

Drei Wochen hielten russische Truppen Butscha besetzt. Die russische Propaganda behauptet, ukrainische Truppen hätten dort Zivilisten beschossen. „Kollateralschäden“ kennen wir auch aus den amerikanischen Kriegen in Irak, Afghanistan etc., aber der Versuch, die Schuld auf die Verteidiger zurückzuschieben, ist perfide Propaganda. Fest steht: Russische Truppen haben die Ukraine überfallen, sie tragen unabweisbar die Schuld an den Grausamkeiten.

Der unerwartet hartnäckige Widerstand der Verteidiger wird die Gewalt gesteigert haben – das liegt in der brutalen Logik von Krieg. Und dennoch: Wir kennen die vollständige Geschichte der Verbrechen von Butscha nicht. Wir waren nicht dabei, wir mögen uns wundern, dass so kurz nach der Befreiung vollständig dokumentierte Opferschicksale verbreitet wurden. Und noch ist nicht erklärt, warum die abziehenden russischen Truppen solch eine Masse von Belegen für Kriegsverbrechen offen auf der Straße liegend präsentieren sollten. Mussten sie in wilder Hast überstürzt fliehen? Waren die  Kommandeure überfordert? Wir wissen es nicht. Bei aller Empathie für die Überfallenen: Beide Seiten beherrschen das Propagandaspiel.

Sanktionen ja, Kriegseintritt nein

Deshalb ist jetzt entscheidend, so schnell und umfassend wie möglich aufzuklären. Opfer für Opfer müssen unabhängige Gerichtsmediziner ihre Arbeit tun, müssen Ermittler Spuren sammeln, Zeugen befragen – und die Täter, auch die Befehlsgeber, zur Verantwortung ziehen. Die Ukraine lädt das für Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen zuständige Weltstrafgericht in Den Haag ein, die Verbrechen zu untersuchen. Weder Russland noch die USA erkennen diesen Internationalen Strafgerichtshof an, China, Indien, die Türkei und Israel ebenso wenig. Sie alle haben ihre schlechten Gründe.

Die Bilder aus Butscha setzen die Politiker im Westen massiv unter Handlungsdruck. Es dürften nicht die letzten ihrer Art bleiben. Mit großer Wahrscheinlichkeit werden aus anderen Orten – Charkiw, Cherson, ganz zu schweigen von Maruipol – schreckliche Nachrichten kommen. Je bedrängter die Invasoren, je härter die Kämpfe, desto mehr Opfer auch unter Zivilisten. Und vergessen wir nicht: Auch die ukrainische Seite steht unter Dauerdruck, offenbar breitet sich Misstrauen gegen die eigenen Leute aus, die in den Verdacht geraten, Verrat zu begehen. Was geschieht mit Kollaborateuren? Humane Behandlung?

Weitere Sanktionen des Westens sind geboten, die Bilder aus Butscha können nicht ohne Antwort bleiben. Ebenso fordert der Kriegsverlauf weitere Waffenlieferungen für die Ukrainer. Sie müssen nicht nur befähigt werden, ihr Land zu verteidigen bzw. Gebiete zurückzuerobern – sie müssen auch die Chance haben, in die laufenden Verhandlungen hinein eine starke Position für ihre Forderungen zu erkämpfen. Je schwächer die russische Position auf dem Feld, desto günstiger für die Diplomaten der Ukraine.

Aber eines soll ausgeschlossen bleiben, egal wie der Krieg sich wendet: Es kommt nicht infrage, dass sich der Westen in den Krieg hineinziehen lässt. Das ist keine Option – um des Weltfriedens willen.