Migration

Italiens Regierung über Migranten-Notstand in Lampedusa: „Es ist ein Akt des Krieges“

Die Lage auf Lampedusa ist außer Kontrolle. Berlin kündigt einen Aufnahmestopp an, Paris rüstet die Grenze auf. Rom sieht sich erneut alleingelassen – und gibt wieder Europa die Schuld.

Migranten im überfüllten Hotspot von Lampedusa warten am 13. September 2023 auf ihre Überstellung.
Migranten im überfüllten Hotspot von Lampedusa warten am 13. September 2023 auf ihre Überstellung.ZUMA Press/imago

Die Nacht zum Donnerstag war die erste seit drei Tagen, in der kein Migrantenboot auf Lampedusa ankam. Trotzdem ist die Lage dort alles andere als beruhigt. Nachdem am Dienstag und Mittwoch insgesamt mehr als 7000 Menschen innerhalb weniger Stunden den Hafen der kleinen sizilianischen Insel erreicht hatten, befand sich das System der Erstaufnahmen bereits am Rande des Kollapses, 48 Stunden lang herrschte dort das Chaos.

Der Hotspot, wie die einzige Erstaufnahmeeinrichtung der Insel genannt wird, und der Platz für rund 500 Personen hat, muss nun mehr als 4000 beherbergen. Hilfsorganisationen berichten, dass es an allem mangelt: Wasser, Lebensmitteln, Medikamenten.

Am Mittwochabend und in der Nacht zum Donnerstag kam es außerdem zu Spannungen, während aufgrund des großen Menschenandrangs Hunderte von Migranten versuchten, Absperrungen zu durchbrechen, um den Hafen eigenständig zu verlassen. Videos zeigen, wie die italienische Polizei die Menschen zurückdrängte. Die Polizei musste auch am Hotspot eingreifen, um Helfer des italienischen Roten Kreuzes bei der Verteilung von Lebensmitteln zu schützen, als mehrere Hundert Menschen stundenlang vor der Einrichtung warteten und sich die Nachricht verbreitete, dass es keine Essenspakete mehr gebe.

Bürgermeister Filippo Mannino rief am Mittwochabend den Notstand auf der Insel aus und forderte von der italienischen Regierung die Entsendung von Schiffen und Flugzeugen zur Beruhigung der Lage, die explosiv zu werden droht.

Matteo Salvini: Migrationswelle ist „Kriegsakt“ gegen Italien

Der italienische Vizepremier Matteo Salvini, der auch Verkehrs- und Infrastrukturminister ist, meldete sich als erster Vertreter der Regierung zunächst mit starken Worten: „Es ist ein Kriegsakt“, sagte er am Mittwoch vor Journalisten. Der Notstand, so Salvini, sei in Wirklichkeit keiner, in dieser neuen Migrationswelle sieht der italienische Minister „etwas, das organisiert, geplant und finanziert wird. Es ist ein kriegerischer Akt“.

Wer diesen Krieg gegen Italien führt, und warum? Salvini: „Ich bin kein Verschwörungstheoretiker, aber es ist klar, dass dies beabsichtigt ist, um eine unbequeme Regierung in Schwierigkeiten zu bringen. Es ist ein von der Kriminalität organisierter Exodus.“

Salvini sprach deutlich von einem „Scheitern der Vereinbarungen mit den Sozialisten“ auf EU-Ebene. Er bezog sich dabei auf den im Juni vereinbarten, jedoch unter den EU-Partnern umstrittenen Asylkompromiss, der einen neuen Solidaritätsmechanismus vorsieht.

Die italienische Regierung werde nun angesichts der Lage in Lampedusa „keine Art der Intervention ausschließen“, um den Migrationsstrom zu stoppen: „Wenn man alleingelassen wird, kann man nicht anders handeln“, so Salvini, der Europa als „abwesend, abgelenkt und mitschuldig“ bezeichnete.

Deutschland und Frankreich stoppen Aufnahmen – Meloni: Das habe ich erwartet

Damit reagierte der Minister nicht nur auf die Situation in Lampedusa, sondern auch auf die migrationspolitischen Entscheidungen, die gestern von Deutschland und Frankreich kamen. Beide Ländern kündigten an, keine Migranten mehr aus Italien aufnehmen zu wollen.

Die Bundesregierung hatte am Mittwoch bestätigt, dass sie das Programm zur freiwilligen Aufnahme von Migranten aus Italien aussetzen werde, das im Rahmen des „freiwilligen Solidaritätsmechanismus“ auf EU-Ebene beschlossen worden war. Am selben Tag hatte der französische Innenminister Gérarld Darmanin angekündigt, die Grenze zwischen Menton und Ventimiglia „aufrüsten“ zu wollen, damit keine Migranten mehr illegal von Italien nach Frankreich überlaufen. Man werde die Präsenz des Militärs an der Grenze zu Italien von derzeit 60 auf 120 Beamte verdoppeln, so Darmanin, der weiter erklärte, dass Verstärkung für „Luftfahrzeuge, insbesondere Drohnen“, bereits vor Ort eingetroffen seien.

Italien und die Dublin-Regeln: Darum reagieren Deutschland und Frankreich

Hintergrund der deutschen und französischen Entscheidungen ist die Weigerung Italiens, Überstellungen von Asylsuchenden zu akzeptieren, wie sie im Dublin-Abkommen vorgesehen sind. Gemäß geltendem EU-Asylrecht sollten Asylbewerber, die ohne Genehmigung in ein anderes EU-Land einreisen, in das Land ihrer Ersteinreise zurückgeschickt werden. In den letzten Monaten hatte die italienische Regierung diese Überstellungen blockiert und dies auch im Dezember 2022 den anderen EU-Mitgliedstaaten in einem Schreiben mitgeteilt: Die Überstellungen würden aus angeblichen technischen Gründen und aufgrund fehlender Aufnahmekapazitäten vorübergehend ausgesetzt, so die italienische Regierung.

Während viele italienische Medien die dramatischen Bilder aus Lampedusa und die Entscheidungen der Regierung und Frankreichs und Deutschlands in Zusammenhang brachten und schrieben, Italien würde von Europa alleingelassen, zeigte sich Premierministerin Meloni vorsichtiger.

Sie habe die deutsche und die französische Entscheidung erwartet, sagte sie am Mittwochabend, schließlich seien die EU-Partner im Dezember darüber informiert worden.

Die Frage der Uberstellungen, auf die sich die Entscheidung des Bundesinnenministeriums bezieht, sei zweitrangig, sagte Meloni: „In den letzten Monaten wurden nur sehr wenige Menschen überstellt, die Frage ist vielmehr, wie wir die Ankünfte nach Italien stoppen können, ich sehe noch keine konkreten Antworten“.

Zur Erinnerung: Meloni und Salvini hatten 2022 im Wahlkampf sogar eine militärische Seeblockade gegen die Flüchtlingsboote in Aussicht gestellt. Allerdings ist nach UN-Recht eine Seeblockade nur in bestimmten extremen Fällen der Selbstverteidigung zulässig: bei Aggression oder Invasion.

Der Wahlkampf für die Europawahl hat begonnen

Dass die Lage innenpolitisch für Meloni höchst brisant ist, steht außer Frage: Die Migrationspolitik, beziehungsweise das Versprechen, dass weniger Leute nach Italien kommen, standen im Mittelpunkt des Wahlkampfs des Mitte-rechts-Bündnisses, das im vergangenen Jahr die Parlamentswahlen gewann.

Die Zahlen für das Jahr 2023 sprechen jedoch eine ganz andere Sprache: Laut Angaben des italienischen Innenministeriums sind seit Jahresbeginn bereits fast 124.000 Menschen registriert worden, die auf Booten in Italien angekommen sind. Im Vergleich dazu waren es im Vorjahr von Januar bis Mitte September 65.500. Hält dieser Trend an, könnte bis zum Ende des Jahres sogar die Rekordzahl von 2016 überschritten werden, als über 180.000 Menschen ankamen. 

Die Parteien der Rechts-Allianz, denen die Migrationspolitik der vorherigen Regierungen immer als „zu weich“ und „migrantenfreundlich“ galt, regieren nun selbst – und sind angesichts der Bilder aus Lampedusa in Erklärungsnot geraten gegenüber ihren Wählern. Die Worte von Matteo Salvini erinnern an eine Zeit, in der die Schuldigen für das migrationspolitische Chaos in Italien bei den anderen gesucht wurden – in Europa.

Ob die innenpolitischen Schritte der deutschen und der französischen Regierung die rechtspopulistische, europafeindliche Rhetorik, die seit Amtsantritt der Meloni-Regierung leiser, wenn nicht fast verstummt war, wiederbeleben werden, wird sich in den kommenden Wochen zeigen.

Ende September wird im Europäischen Parlament wieder über den EU-Migrationspakt verhandelt. Der wichtigere Termin steht für alle Mitgliedstaaten im kommenden Jahr an: Der Wahlkampf für die Europawahl 2024 steht vor der Tür und die Migration wird dabei eines der zentralen Themen sein.

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