Deutschland

„Ein fatales Signal in die falsche Richtung“

Der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, sieht eine zunehmende Radikalisierung im politischen Diskurs.

Josef Schuster, Vorsitzender des Zentralrates der Juden Deutschlands, während des Interviews im Leo-Beck-Haus in Berlin.<br>
Josef Schuster, Vorsitzender des Zentralrates der Juden Deutschlands, während des Interviews im Leo-Beck-Haus in Berlin.
Berliner Zeitung/Markus Wächter

Berliner Zeitung: Herr Dr. Schuster, wie hat sich das jüdische Leben in Deutschland in den vergangenen 30 Jahren entwickelt?

Dr. Josef Schuster: Es hat sich sehr positiv entwickelt. Mit dem Fall der Mauer haben der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl und der damalige Vorsitzende des Zentralrats, Heinz Galinski, vereinbart, Juden aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion aufzunehmen. Die jüdischen Gemeinden in Deutschland hatten 1989 etwa 25.000 Mitglieder. Dank der Zuwanderung haben wir heute an die 100.000 Mitglieder in 105 jüdischen Gemeinden. Es gibt neue Gemeinden, aktives jüdisches Leben hat sich etabliert. Es ist uns gelungen, die jüdischen Zuwanderer  gut zu integrieren: Die Menschen wussten ja wenig von der Religion, weil die Sowjetunion religiöses Leben unterdrückt hatte. Wir haben ihnen gezeigt, dass die jüdischen Gemeinden Kultus-Gemeinden sind und keine Kulturvereine. Außerdem haben die Zuwanderer bei uns die deutsche Sprache gelernt. Ohne die Beherrschung der Sprache kann man nicht in einem anderen Land leben.

Wie war die Entwicklung in der jüngeren Vergangenheit?

Es gibt eine Umfrage, der zufolge haben etwa 20 Prozent der Deutschen antisemitische  Vorurteile. Dieser Prozentsatz ist über die Jahrzehnte mehr oder weniger gleichgeblieben. In den vergangenen zehn Jahren sind jedoch antijüdische Ressentiments stärker zu Tage getreten. Wir erleben mehr Antisemitismus im Alltag. Durch die sozialen Medien und das Internet gibt es mehr Feindseligkeiten. Neu ist, dass Ressentiments auch vermehrt unter Klarnamen geäußert werden. Das politische Klima hat sich geändert, es werden Dinge ausgesprochen, die früher so nicht gesagt worden wären.

Woran liegt das?

Das liegt nach meiner Einschätzung an einer Partei, die jetzt in allen Landtagen und im Bundestag sitzt und die feindselige Stimmung anheizt. Das ist sehr gefährlich, denn Worten folgen Taten. Wir haben das bei der Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Lübcke, den Morden von Hanau und dem Anschlag auf die Synagoge in Halle gesehen.

Merkt der Zentralrat der Juden die Verschärfung des Tons auch unmittelbar?

Die Hasskommentare und Hassmails haben an „Qualität“ und Quantität deutlich zugenommen.

Wie reagieren Sie?

Wenn wir sehen, dass eine Zuschrift ein ehrliches Anliegen hat und vielleicht aufgrund falscher Informationen Vorurteile enthält, antworten wir. Reinen Hass löschen wir oder leiten ihn an den Staatsschutz weiter.

Haben Sie mit der AfD über das Problem einmal gesprochen?

Ich stelle Ihnen eine Gegenfrage: Glauben Sie, dass es etwas bringen würde, mit der AfD zu sprechen?

Ich weiß es nicht. Die entscheidende Frage ist, ob der Antisemitismus Teil der Programmatik der AfD ist.

Die AfD ist nach Einschätzung vieler Experten antisemitisch und rassistisch.

Welche Aussagen sind für Sie entscheidend für diese Bewertung?

Zum Beispiel der Ruf nach einer erinnerungspolitischen Wende oder  die Aussage, dass das Holocaust-Mahnmal ein Mahnmal der Schande sei. Diese Aussagen sind Teil des Programms. Sie sind wohlüberlegt.

Zur Person
Dr. Josef Schuster wurde 1954 in Haifa geboren. Seine Familie stammt aus Unterfranken. Schuster ist Internist und Notarzt in Würzburg. 2014 wurde Schuster zum Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland gewählt.

Ist das eine Ideologie oder das Fischen von Wählerstimmen?

Es entsteht eine Ideologie, um Wählerstimmen zu gewinnen.

Färbt diese Ideologie auch auf die anderen Parteien ab?

Das glaube ich eher weniger. Aber die Sprachkultur, die wir heute in unseren Parlamenten erleben, sogar im Bundestag, die hat sich durch die Anwesenheit der AfD massiv verändert.

Was kann man dagegen tun?

Ich weiß, das klingt für die Wahl im September utopisch, aber wir sollten alles tun, um die AfD wieder aus dem  Bundestag zu verbannen.

Hat sich die AfD verändert seit ihrer Gründung?

Die AfD ist meiner Meinung nach noch radikaler geworden, wie ja auch die „Flügel-Kämpfe“ zeigen. Die Partei wird aber auch wegen der allgemeinen Politikverdrossenheit stärker. Wenn bei einer Partei heute gesagt wird, es muss mehr Rechte für Geimpfte geben, und morgen wird gesagt, es soll nicht mehr Rechte für Geimpfte geben, kennen sich die Leute nicht mehr aus. Und dann denken sie sich: Denen da oben werden wir es zeigen. Aus diesem Reservoir schöpft die AfD.

Sie meinen die widersprüchlichen Aussagen der CDU-Führung?

Ja, die CDU. Aber Sie haben das Problem auch bei anderen Parteien. Schauen Sie auf die SPD: Die hat einen Spitzenkandidaten, von dem sie sagt, er müsse Bundeskanzler der Bundesrepublik werden, aber sie haben ihn nicht zum Parteivorsitzenden gemacht. Wer soll das verstehen?

Was sollen die anderen Parteien gegen die AfD tun?

Ich erwarte von allen demokratischen Parteien eine klare Abgrenzung von der AfD und nicht nur schöne Worte.

Wie sehen Sie in diesem Zusammenhang die Tätigkeit von Hans-Georg Maaßen in der CDU?

Ich verstehe Herrn Maaßen überhaupt nicht. Vor allem verstehe ich nicht, wie er plötzlich solche Positionen vertreten kann, wo er doch in seinen früheren Funktionen ganz klar andere Ansichten geäußert hat. Die Nominierung von Herrn Maaßen ist jedenfalls alles andere als eine Abgrenzung der CDU vom rechten Rand. Sie schadet der CDU und ist ein fatales Signal in die falsche Richtung.

Wie sehen Sie die Corona-Demos?

Ich sehe eine höchst bedenkliche Entwicklung. Es verwischen sich die Argumente. Es gibt dort Menschen, die gegen eine Impfpflicht sind. Das ist legitim. Wo aber Ungeimpfte sich einen gelben Stern anheften und sich mit  Juden während der Verfolgung durch den Nationalsozialismus vergleichen, da muss jedem einzelnen klar sein, dass eine Grenze überschritten ist.

Auch in Italien hat man diese Sterne bei den Demos gesehen.

Ich weiß, die Demonstranten kopieren ihre Methoden. Aber in Deutschland erwarte ich  wegen der Geschichte mehr Verantwortungsbewusstsein.

Es gibt neben dem rechten auch einen linken Antisemitismus, der in manchen Ländern in der BDS-Bewegung zu erkennen ist. Spielt die BDS-Bewegung in dieser Hinsicht in Deutschland eine Rolle?

Zum einen bin ich nicht sicher, ob die BDS-Bewegung links ist. Ich sehe nicht, dass diese Bewegung hier eine große Rolle spielt, wenngleich sie versucht, Fuß zu fassen. Wir sehen bei dieser Bewegung einen israelbezogenen Antisemitismus. Natürlich darf man die Regierung Israels kritisieren. Ich kritisiere die Politik von Regierungen auch, auch jene der Bundesregierung. Oft ist es aber so, dass man die Kritik als Vorwand für antisemitische Vorurteile nimmt: Man darf nicht „Juden“ sagen, also sagt man „Israel“. Das geht nicht.

In der Zeit nach dem Raketenbeschuss Israels durch die Hamas waren viele Politiker aufgeschreckt wegen des islamisch-arabischen Antisemitismus. Hat dieser zugenommen?

Der Zentralrat der Juden hat bereits 2014 auf diesen Antisemitismus  hingewiesen, also vor der Migrations-Diskussion im Jahr 2015. Es war die Zeit des sogenannten „Gaza-Kriegs“. Der Zentralrat hat sich damals zu dem  Schritt veranlasst gesehen, eine Kundgebung unter dem Titel „Steh auf! Nie wieder Judenhass“ zu veranstalten.

Gibt es eine Möglichkeit, mit den Muslimen ins Gespräch zu kommen?

Wir haben  das Projekt  „Schalom Aleikum“ gestartet, in der Juden und Muslime aus denselben Bereichen der Zivilgesellschaft ins Gespräch kommen. Ich bin auch im Austausch mit Aiman Mazyek, dem Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime. Das Problem beim Zentralrat der Muslime ist: Er spricht nur für eine sehr kleine Gruppe von Muslimen und vertritt nicht alle Gruppierungen. Es gibt noch den Koordinierungsrat, aber da wechselt der Vorsitz alle halbe Jahre, weshalb keine Kontinuität gegeben ist. Und dann gibt es Gruppen, die von anderen Staaten finanziert werden.

Sie meinen die Ditib und die Türkei?

Richtig. Das macht ein Gespräch nicht einfach. Es fehlt auf der Seite der Muslime ein Sprecher, der wirklich für alle sprechen kann.

Das ist ja auch ein wenig das Problem der jüdischen Organisationen, die auch nicht zentral organisiert sind.

Der Zentralrat der Juden spricht für alle jüdischen Mitglieds-Gemeinden, auf Ortsebene, Länderebene und Bundesebene.

Fehlt wie bei den Katholiken ein Papst, der wirklich verbindlich für alle spricht?

Es wäre vielleicht manchmal einfacher, ist aber für uns ein befremdlicher Gedanke. Im Judentum ist es so, dass kein Jude Mitglied in einer Gemeinde  sein muss. Die Gemeinden wiederum müssen bestimmte Kriterien erfüllen, damit sie in die Landesverbände und damit indirekt in den Zentralrat aufgenommen werden. Wegen der Zuwanderung haben sich viele neue Gemeinden gebildet. Die ankommenden Juden wurden  nach dem „Königsteiner Schlüssel“ auf die Bundesländer verteilt. In Bayern war man da sehr klug: Man hat die Juden in der Nähe von jüdischen Gemeinden angesiedelt, wo sie dann auch schnell integriert werden konnten. Dadurch hat sich auch der Charakter der Gemeinden verändert. Bis 1990 hatten wir weitgehend traditionelle Einheitsgemeinden. Heute haben wir etwa 90 Prozent traditionelle Gemeinden und zehn Prozent liberale Gemeinden.

Welche Rolle spielen neue Gruppen, wie etwa die Chabad-Bewegung, die etwa in Berlin eine wichtige Rolle im jüdischen Leben einnimmt?

Die Arbeit von Chabad für das jüdische Leben in Deutschland ist sehr wertvoll, aber Chabad ist nicht Mitglied im Zentralrat der Juden. Der Berliner Chabad-Rabbiner, Jehuda Teichtal, ist Gemeinderabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, und wir haben auch schon Projekte von ihm unterstützt, weil sie überregionalen Charakter haben, wie das neue Bildungszentrum in der Münsterschen Straße. Aber grundsätzlich fördert der Zentralrat keine Gemeinden, das ist Ländersache.

Gibt es noch Zuwanderung von Juden nach Deutschland?

Die Zuwanderung ist im Jahr 2005 durch das neue Zuwanderungsgesetz weitgehend zum Erliegen gekommen. Zudem besserte sich für Juden die Lage in der ehemaligen Sowjetunion. Der  Antisemitismus ging zurück. Aber natürlich würde ich mich über mehr Zuwanderung von Juden freuen.

Was erwarten Sie von der nächsten Bundesregierung?

Wir erwarten, dass die  neue Bundesregierung den bisher beschrittenen Weg  im Hinblick auf den Kampf gegen den Antisemitismus und die Förderung des jüdischen Lebens in Deutschland fortsetzt. Dazu gehört unter anderem, dass die 89 beschlossenen Maßnahmen des Kabinettsausschusses zu Rechtsextremismus und Rassismus nicht in der Schublade verschwinden. Wir weisen in unseren Gesprächen mit der Regierung auch immer darauf hin, dass die Berufung des Antisemitismusbeauftragten eine gute Entscheidung war. Allerdings hoffen wir, dass der Beauftragte nach der Wahl nicht mehr im  Bundesinnenministerium, sondern im Kanzleramt angesiedelt  wird – weil  dem Anliegen so die angemessene Bedeutung zukäme.

Das Gespräch führte Michael Maier.