Globalisierung

UN-Direktor: Ohne Waffen hätten wir ein unglaubliches Potenzial, die Welt zu verbessern

Krieg, Hunger, Klimakatastrophen: Würde die Menschheit darauf verzichten, Kriege zu führen, wäre vieles möglich. Allerdings läuft es aktuell in die andere Richtung. 

Martin Frick, Direktor des UN-Welternährungsprogramms Deutschland, auf dem Responsible Leaders Innovation Forum 2024 der BMW Foundation in Berlin
Martin Frick, Direktor des UN-Welternährungsprogramms Deutschland, auf dem Responsible Leaders Innovation Forum 2024 der BMW Foundation in BerlinBerliner Zeitung

Die aktuellen Kriege im Zusammenhang mit den Folgen des Klimawandels stellen für Martin Frick, Direktor des UN-Welternährungsprogramms Deutschland, ein massives Problem für die Grundbedürfnisse der Menschen dar. Frick sagte der Berliner Zeitung am Rande des Responsible Leaders Innovation Forum 2024 der BMW Foundation Herbert Quandt in Berlin: „Wir haben heute doppelt so viel Krieg auf der Welt, als wir noch vor zehn Jahren hatten, und laufend kommen neue dazu. Die drei großen Treiber des Hungers sind Konflikt, Kosten und Klima.“ Frick nennt den Krieg in der Ukraine sowie die Explosion der Gewalt in Gaza und jetzt im Libanon. Hinzu komme ein „gewaltiger Krieg im Sudan, der innerhalb eines Jahres die Hälfte der Bevölkerung in Hunger gestürzt hat“. Eigentlich, so Frick, bräuchte die Welt „viel mehr Kollaboration“, es gebe „aber eine immer stärkere Fragmentierung“. Frick: „Die Ausgaben für Waffen liegen weltweit im Billionen-Bereich. Wenn das von heute auf morgen aufhören würde, hätte man ein unglaubliches Potenzial, um die Welt zu verbessern. Doch alle Zeichen stehen auf das Gegenteil.“ Durch den Informationskrieg, der vor allem über die sozialen Medien ausgetragen werde, sei es wegen der vielen Lügen schwer, miteinander Lösungen zu entwickeln: „Es ist wirklich nicht einfacher geworden zusammenzuarbeiten“, sagte der UN-Direktor. Auch die Vereinten Nationen seien eben nur „ein Klub souveräner Staaten“, so gut oder schlecht wie die Mitgliedsstaaten. Frick beobachtet eine Krise des Multilateralismus: „Es herrscht kein Mangel an klugen Menschen, aber die Staaten müssten mitziehen.“

Zur Situation in der Ukraine sagte Frick: „Wir sind nach wie vor dabei, als Welternährungsprogramm täglich Menschen zu versorgen, und zwar nahe der Front. Das ist absurd, weil die Ukraine eines der größten landwirtschaftlichen Produzentenländer ist.“ Die UN helfen „den Menschen direkt vor Ort, helfen aber auch, Äcker von Minen zu befreien, sodass die Menschen dort wieder anbauen können“. Gleichzeitig kaufen die UN aber auch Getreide von der Ukraine. Die Lage ist bizarr: „Bevor der Krieg losging, war die Ukraine unser größter Lieferant für Getreide für Ernährungssituationen in der Welt.“ Heute „unterstützen wir die Bäckereien in der Ukraine, da fehlt es an Treibstoff, um die Öfen zu betreiben, es fehlt an Grundzutaten wie Hefe“. Die UN kaufen in der Ukraine für die Ukraine ein, aber auch für andere Regionen: „Wenn man sich die Landkarte im Nahen Osten ansieht, dann sieht man, dass sich die Ukraine als Lieferant anbietet.“

Frick schildert, wie sich die Lage entwickelt hat: „Wir hatten das Getreide-Programm mit der Ukraine, welches von der Türkei und den Vereinten Nationen in Übereinstimmung mit Russland gemanagt wurde, um Exporte zu ermöglichen. Das lief bis August vergangenen Jahres, dann hat es die russische Seite nicht verlängert. Aber wir sehen, dass zurzeit entlang der ukrainischen Küste Getreideexporte möglich sind. Die werden aber militärisch geschützt. Die internationale Abmachung, die Getreideexporte zu respektieren, gibt es nicht mehr.“ Das Getreide gehe „kommerziell im großen Maßstab in die ganze Welt“. Auch die UN seien ein Aufkäufer des Getreides, das dann in bestimmte Länder gebracht würde, wie zum Beispiel den Sudan.

Die Vermutung, dass auch Getreide nach Europa verkauft werde und daher den Hungernden vorenthalten würde, sei eine russische Erzählung. Frick: „Welche Produzenten auf der Welt sind denn verpflichtet, dass ihre Lebensmittel für humanitäre Zwecke verwendet werden? Da wird dann plötzlich an die Ukraine der Anspruch gestellt, als seien sie allein als Wohltäter verantwortlich für die Ernährung der Welt.“ Die Ukraine sei ein Marktteilnehmer wie Kanada oder Australien oder die USA.

Ein besonderes Problem ergibt sich für die EU: „Die Europäische Union hat beschlossen, zur Unterstützung der Ukraine alle Handelshindernisse gegenüber der Ukraine fallen zu lassen. Das hat der Ukraine sehr geholfen, aber es hat Schwierigkeiten geschaffen für die Bauern in Polen.“ Frick glaubt dennoch, dass die EU heute viel weniger protektionistisch ist als früher. Er sagte: „Die Europäische Union hat mit allen benachbarten Ländern in Afrika Freihandelsabkommen, sodass auch aus Afrika exportiert werden kann. Wir stehen das, weil wir für Kaffee, Kakao, Bananen oder Baumwolle nicht viel bezahlen.“

Besonders kritisch ist die Ernährungslage im Nahen Osten. Nach dem Beschuss durch die israelische Armee sind die Helfer der UN selbst plötzlich bedroht. Sie wollen trotzdem in der Region bleiben, auch wenn es „sehr, sehr schwierig ist, in Gaza und im Libanon Hilfe zu leisten“. Frick: „Vor allem in Gaza haben wir große Schwierigkeiten beim Zugang. Wir haben in den vergangenen Monaten eine gesamte Bevölkerung von 2,4 Millionen Menschen gesehen, die in Ernährungsunsicherheit gefallen ist bis hin zur Stufe Hungersnot in einzelnen Gebieten. Das ist dramatisch. Unsere Mitarbeiter und andere Organisation riskieren Kopf und Kragen.“

Im Libanon gibt es laut Frick über Nacht 1,2 Millionen Flüchtlinge. Dazu kämen 1,5 Millionen syrische Flüchtlinge, die schon seit langem im Libanon sind. Sie machen sich jetzt wieder zurück auf den Weg nach Syrien, „in eine entsetzliche Situation, vor der sie ja eigentlich geflohen sind“: „Da kann man sich ja vorstellen, wie groß die Verzweiflung sein muss“, so Frick.

Die Hunger-Krise in der Welt habe sich mit Corona drastisch verschärft, sagte der UN-Direktor. Frick: „Wir hatten 2019 – vor Covid – ungefähr 135 Millionen Menschen, die akut in Ernährungsunsicherheit waren. Heute sind es über 300 Millionen Menschen.“ Die Covid-Pandemie sei zwar „nicht mehr in dem Ausmaß virulent, wie sie war, aber die Folgen der Covid-Pandemie haben viele Länder des globalen Südens tief in die Verschuldung getrieben“. Nachdem die Zinsen jetzt wieder gestiegen seien, „müssen die Länder einen unglaublichen Schuldendienst leisten“. Dies führe zu Inflation in den Ländern und zu Währungsverlusten gegenüber dem US-Dollar. Wie in Deutschland würden vor allem die Grundnahrungsmittel immer teurer. Frick: „Nur bezahlen wir in Deutschland 12 Prozent unseres Einkommens für Lebensmittel. In manchen Ländern, in denen wir arbeiten, sind es bis zu 80 Prozent. Wenn die Preise der Grundnahrungsmittel steigen, kann es den Unterschied ausmachen zwischen Es-gerade-noch-schaffen und dem Abrutschen in die Armut.“

Der Grund der Verschuldung sei mannigfach: „Es wurden Lieferketten unterbrochen, Produkte sind teurer geworden, Transferzahlungen sind ausgefallen.“ Es gebe viele Menschen aus Ländern des globalen Südens, die in anderen Teilen der Welt arbeiten, und die während der Pandemie kein Geld mehr nach Hause schicken konnten. Auch die Maßnahmen, die die Länder ergreifen mussten, um Covid-Patienten zu behandeln, hätten „sehr, viel Geld gekostet, und das spürt man jetzt noch“.

Eine Lösung wäre ein Schuldenschnitt, wie ihn der legendäre Banker Alfred Herrhausen von der Deutschen Bank Ende der 1980er-Jahre vorgeschlagen hatte. Frick bestätigte, dass dergleichen diskutiert werde, schränkt jedoch ein: „Zu der Zeit, als Herrhausen das gesagt hat, waren die Gläubigerländer im wesentlichen OECD-Länder. Heute sind die Länder des globalen Südens sehr stark bei Indien und China und bei privaten Banken verschuldet. Das macht es schwieriger, sich auf einen Schuldenschnitt zu einigen.“ Es müsse jedoch gesehen werden, dass die „Entwicklungsländer pro Jahr 850 Milliarden Euro nur an Zinsen bezahlen und dass das diesen Ländern natürlich die Luft zum Atmen raubt“. Frick will nicht ausschließen, dass China bei einem Umbau der globalen Finanzarchitektur mitmacht: „China hat eine sehr handelsorientierte Entwicklungszusammenarbeit, und keinem ist geholfen, wenn der Handelspartner zusammenbricht.“

Frick glaubt, dass der Klimawandel die Staaten noch viel stärker zur Kooperation zwingen werde. So habe es Überflutungen in Tschechien, Polen und Österreich gegeben. Zugleich seien, unbemerkt von der Weltöffentlichkeit, fast fünf Millionen Menschen von Überschwemmungen in Westafrika betroffen. Mit Kriegen und Konfrontation sei kein Problem zu lösen, so Martin Frick.