Bundesregierung und EU müssen in der Ukrainepolitik endlich einen Strategiewechsel vollziehen. Ihre politischen Anstrengungen sollten sich auf eine diplomatische Lösung konzentrieren, um das Leid, die Verletzungen und Zerstörungen auf allen Seiten zu beenden und die Gefahren von Atomkrieg und Klimakatastrophe zu reduzieren. Die Friedensnobelpreisträgerorganisation IPPNW sieht die derzeitigen Verhandlungen als gute Grundlage, um einen schnellstmöglichen Frieden in der Ukraine zu erreichen. Das Sterben muss endlich beendet werden. Die Zahl der Todesopfer auf beiden Seiten ist immens. Insgesamt wurden laut Angaben des Center for Strategic and International Studies 1,4 Millionen Soldaten getötet oder verletzt. Hinzu kommen mehr als 14.000 tote und 37.500 verletzte zivile Opfer in der Ukraine.
Bei den Verhandlungen sollte das Ziel eines nachhaltigen Friedens Priorität haben. Die historische Forschung zu Friedensprozessen zeigt, dass Frieden von möglichst vielen Menschen als gerecht empfunden werden muss und daher nicht über die Köpfe der ukrainischen Bevölkerung hinweg verhandelt werden darf. Gebietsansprüche sollten mithilfe internationaler Gremien auf diplomatischem Weg geklärt werden. Annexionen durch Krieg oder Vertreibung sind als völkerrechtswidrig zurückzuweisen.
Die Fehler des Westens benennen
Ein wichtiger und zugleich kritischer Punkt für einen nachhaltigen Waffenstillstand sind Sicherheitsgarantien, die die Interessen der beteiligten Konfliktparteien berücksichtigen müssen. Um diese Sicherheitsgarantien für die Ukraine zu implementieren, bedarf es deshalb unparteiischer und supranationaler Institutionen wie der Vereinten Nationen und den OSZE.
Im Sinne einer Friedenslogik sollten zudem auch die Fehler und Versäumnisse der westlichen Staaten benannt werden. Dazu gehören die Nato-Osterweiterung und der Beitrag zur Erosion der Rüstungskontrolle. Für die mangelnde Durchsetzung des Minsk-II-Abkommens und das Scheitern der Verhandlungen in Istanbul im März 2022 tragen alle Seiten Verantwortung. Zudem zählen die von den USA vorangetriebene Abkehr aus wichtigen Rüstungskontrollabkommen wie dem Raketenabwehrvertrag (ABM) oder dem Vertrag zum Verbot der Stationierung von Mittelstreckenwaffen in Europa (INF-Vertrag) zu den gravierenden Fehlern.
Laut der kürzlich veröffentlichten neuen Nationalen Sicherheitsstrategie der USA sollen die europäischen Staaten in den nächsten Jahren die Gesamtlasten der Nato zur Verteidigung gegenüber Russland tragen. Die Europäische Verteidigungsagentur rechnet für 2025 mit knapp 400 Milliarden Euro. Gegenüber 2020 stiegen die Ausgaben um fast 100 Prozent. Die Bundesrepublik trägt dabei mehr als ein Viertel der EU-Verteidigungsausgaben. Wer nur auf militärische Abschreckung setzt, statt auf Dialog, Abrüstung und Rüstungskontrolle, zahlt einen hohen Preis. Die eigentlichen Menschheitsprobleme wie die Bekämpfung der Klimakatastrophe, des Hungers und der Armut bleiben bei dieser EU-Politik auf der Strecke. So wird der Etat des deutschen Entwicklungshilfeministeriums beispielsweise um fast eine Milliarde Euro gekürzt. Die Mittel für humanitäre Hilfe erreichen den tiefsten Stand seit einem Jahrzehnt.
Militärische Aufrüstung kann nicht der Lösungsweg für einen nachhaltigen Frieden sein. Es braucht Dialogbereitschaft von allen Seiten. Ein erster wichtiger Punkt bei den derzeitigen Verhandlungen ist der Vorschlag zur Verlängerung der Start-Verträge zur Reduzierung und Begrenzung strategischer Trägersysteme und nuklearer Sprengköpfe. Der Vertrag läuft im Frühjahr nächsten Jahres aus. Russland hatte im September 2025 vorgeschlagen, die Begrenzungen zur Reduzierung strategischer Atomwaffen (New Start) informell um ein Jahr zu verlängern. Die Regierung Trump sollte dem russischen Vorschlag jetzt formell zustimmen.
Für eine gemeinsame Sicherheitspolitik muss es zudem darüber hinausgehende Vereinbarungen zwischen den USA und Russland zur Rüstungskontrolle geben. Mit China, das kontinuierlich nuklear aufrüstet, könnte trilateral eine Reduzierung der jeweiligen Atomwaffen vereinbart werden, um das nukleare Wettrüsten aufzuhalten. Dabei sollten die beiden am stärksten bewaffneten Atommächte USA und Russland ihren gemeinsamen Willen zu nuklearer Abrüstung durch konkrete Abrüstungsschritte bekräftigen und der nächsten Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrages im April 2026 entsprechende Vorschläge präsentieren. Die chinesische Regierung hat in ihrer neuen Nuklearstrategie vom November 2025 die langjährige Politik des Nicht-Ersteinsatzes von Atomwaffen bekräftigt. Diesen Politikansatz könnten die Bundesregierung und die EU positiv aufgreifen.
Im ureigenen Interesse der Bundesregierung sollte zudem liegen, ein Wettrüsten im Bereich landgestützter Mittelstreckenraketen zu verhindern. Der gegenseitige Verzicht auf die hochgefährliche Stationierung von Mittelstreckenwaffen könnte ein Ergebnis weiterer Verhandlungen zum Ukraine-Krieg sein und damit die Gefahr einer militärischen Eskalation in Europa reduzieren.
Die Gefahr eines neuen Kalten Kriegs
Mit der ab 2026 geplanten Stationierung US-amerikanischer Marschflugkörper, Raketen und Hyperschallwaffen sollen erstmals seit 1991 wieder Mittelstreckenwaffen auf deutschem Boden stationiert werden, die Ziele weit in Russland treffen können. Die Bundesregierung plant zudem den Kauf des mobilen Startsystems „Typhon“, von dem Mittelstreckenwaffen mit einer Reichweite von über 1600 Kilometern gestartet werden. Damit wären konventionelle Angriffe auf die russische militärische Infrastruktur und das russische Frühwarnsystem möglich.
Es sei daran erinnert, dass mit dem Prozess von Helsinki in den Hochzeiten des Kalten Krieges der Grundstein gelegt wurde für Entspannungspolitik, Rüstungskontrollabkommen und Vereinbarungen zur Einhaltung von Menschenrechten über die Blöcke hinweg. Dies war möglich und nötig trotz der blutigen Niederschlagung der Reformbewegung beim sowjetischen Einmarsch in Prag einige Jahre zuvor.
Die IPPNW ist 1980 aus der Zusammenarbeit zwischen einem sowjetischen und amerikanischen Kardiologen entstanden. Dieser Tradition fühlen wir uns weiter verpflichtet. Wir suchen den kritischen Austausch und die Annäherung mit Menschen in Russland. Das Menschenrecht auf Frieden und das Völkerrecht sind dabei unsere Leitlinie. Viele mutige Menschen in Russland leisten trotz massiver Repressionen der russischen Regierung Widerstand gegen den Krieg. So hatten sich etwa Anfang März 2022 mehr als 17.000 russische Ärzte und Gesundheitsfachkräfte für ein Ende der Kampfhandlungen ausgesprochen. Seit Kriegsbeginn sitzen in Russland mehr als 1000 Menschen aus politischen Gründen in Haft, weil sie öffentlich gegen den Krieg in der Ukraine protestiert haben. Diese Menschen brauchen unsere Unterstützung. Die Bundesregierung muss Kriegsdienstverweigerern und politischen Flüchtlingen aller beteiligten Staaten politisches Asyl gewähren und darf sie nicht abschieben.
Die Bundesregierung und die EU sollten sich schon heute Gedanken machen über die zukünftige europäische Sicherheitsordnung. So wirbt Prof. Tom Sauer von der Universität Antwerpen für eine „Helsinki-Konferenz 2.0“, wenn die Kämpfe in der Ukraine endlich enden. Ein Nachkriegseuropa solle auf einer kollektiven Sicherheit basieren, die sowohl die Ukraine als auch Russland umfasst. Elemente könnten eine gegenseitige Streitkräftereduzierung sein sowie Rüstungskontrolle für konventionelle und nukleare Waffen. Sauer warnt davor, dass die Situation nach dem Ende des Krieges in der Ukraine schnell wieder in einen neuen Kalten Krieg münden könnte mit zwei gegnerischen Blöcken, was zu einem Wettrüsten und möglicherweise zu einem neuen Krieg führen würde. Es müssen daher ernsthafte Anstrengungen unternommen werden, um eine neue kollektive Sicherheitsorganisation zu schaffen, die die bestehenden Bündnisse ersetzt.
Diplomatie und Verhandlungen für einen Waffenstillstand
Die Politik der Konfrontation ist hochgefährlich und muss nun endlich beendet werden. Sie setzt unsere Sicherheit aufs Spiel. Jetzt rächt sich, dass die EU und die Bundesregierung in den vergangenen Jahren weder diplomatische Initiativen anderer Staaten unterstützt, noch eigene diplomatische Initiativen eingebracht haben.
Die Realität ist, dass Waffenstillstand und Frieden in der Ukraine von keiner der beiden Kriegsparteien mit militärischen Mitteln zu erreichen ist. Deshalb braucht es Diplomatie und Verhandlungen für einen Waffenstillstand.
Dr. med. Angelika Claußen ist niedergelassene Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie. Seit 1986 ist sie Mitglied in der Ärztevereinigung und derzeit Kovorsitzende der deutschen IPPNW-Sektion (International Physicians for the Prevention of Nuclear War).




