Ukraine-Krieg

Ukraine: Melnyk ruft Scholz zu Diplomatie mit Moskau auf

Der frühere ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, sagt: Bundeskanzler Scholz solle in Moskau ausloten, ob Gespräche mit Putin sinnvoll wären.

Der ukrainische Diplomat und frühere Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, während eines Interviews mit der Berliner Zeitung.
Der ukrainische Diplomat und frühere Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, während eines Interviews mit der Berliner Zeitung.Paulus Ponizak/Berliner Zeitung

Andrij Melnyk, früherer ukrainischer Botschafter in Deutschland, rät der Bundesregierung zu einem diplomatischen Vorstoß in Moskau, um den Krieg in der Ukraine zu beenden. Melnyk, der sein Land heute in Brasilien vertritt, sagte der Berliner Zeitung: „Ganz persönlich glaube ich, dass Bundeskanzler Olaf Scholz kreativ werden und die bestehenden diplomatischen Kanäle Deutschlands nutzen könnte, um auszuloten, ob Gespräche mit Putin sinnvoll wären. Die Bundesrepublik hat ja immer noch eine Botschaft in Moskau. Und die Hauptsache ist, dass wir Ukrainer den Deutschen vertrauen.“ Im Globalen Süden gebe es schon Vermittlungsversuche – und diese erkennt der Diplomat als „eventuell hilfreich“ an: „Ich bin hier in Brasilien, das ein gemeinsames Papier mit China ins Spiel brachte, trotz mancher Meinungsverschiedenheit in konstruktiven Gesprächen“, sagte Melnyk. Die Lage sei zwar „unübersichtlich, aber es ist eine gewisse Bewegung drin“. Das hätten auch die Reise des früheren ukrainischen Außenministers Dmytro Kuleba nach China sowie der Besuch des indischen Premierministers Narendra Modi in Kiew gezeigt.

Melnyk sagte, es gebe „plötzlich neue Signale“ von Putin, dass er eine Vermittlerrolle Chinas, Brasiliens und Indiens „akzeptieren“ würde, weil er „vertrauliche Kontakte zu den Staatsoberhäuptern dieser Länder unterhält“. „Es wäre aus meiner Sicht noch verfrüht zu sagen, ob die Ukraine dazu überhaupt bereit wäre“, kommentierte Melnyk. Denn „das Grundvertrauen, vor allem gegenüber Brasilien, sollte noch ausgebaut werden, dafür bräuchten wir einen viel engeren persönlichen Austausch zwischen den Präsidenten Selenskyj und Lula. Der fehlt leider.“ Auch einige Vermittlungsinitiativen Saudi-Arabiens und Katars seien „begrüßenswert“, um zum Beispiel nach Russland verschleppte ukrainische Kinder in die Heimat zurückzuholen. Es herrsche eindeutig eine „neue Dynamik“. Melnyk: „Gerade deswegen könnten unsere westlichen Verbündeten – vor allem Deutschland – tätig werden und vorsichtig alle Chancen abtasten.“ Was die jüngste Initiative des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán betrifft, erscheine sie „nicht besonders erfolgversprechend“, weil die Beziehungen zwischen Ungarn und der Ukraine seit Jahren „leider angespannt“ blieben. Voraussetzung für jede mögliche Vermittlung sei ja ein tiefes gegenseitiges Vertrauen. Ob Orbán in Teilbereichen mit „humanitärem Charakter, wie etwa einem Gefangenenaustausch“ einen Beitrag leisten könnte, sei sehr fraglich.

Lloyd Austin (l.), Verteidigungsminister der USA, und Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, nehmen am Treffen der Ukraine-Kontaktgruppe auf der US Air Base Ramstein teil. 
Lloyd Austin (l.), Verteidigungsminister der USA, und Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, nehmen am Treffen der Ukraine-Kontaktgruppe auf der US Air Base Ramstein teil. Andreas Arnold/dpa

Nach Melnyks Auffassung braucht es für eine wirklich tragfähige, große Lösung einen Player, dem die Ukraine voll und ganz vertrauen kann: „Ein Grundvertrauen gegenüber potenziellen Vermittlern ist von entscheidender Bedeutung.“ Melnyk: „Die USA könnten diese zentrale Rolle am besten spielen. Die Schwierigkeit ist, dass dort eben der Präsidentschaftswahlkampf im vollen Gange ist.“ Zwar gab es an diesem Freitag ein neues Treffen in Ramstein unter amerikanischer Federführung, zu dem sogar der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj angereist war. Bei dem Treffen wurde jedoch in erster Linie über weitere militärische Unterstützung diskutiert. Im Hinblick auf Verhandlungen könne Berlin für die Ukraine „eine genauso wichtige Rolle“ wie die USA übernehmen: „Deutschland könnte eine diplomatische Vermittlung anstoßen“, sagte Melnyk. Dazu sei es nötig, einen neuen Ansatz zu wählen: „Natürlich gilt für uns nach wie vor das grundlegende Prinzip, dass nichts über die Ukraine entschieden werden kann ohne die Ukraine am Tisch. Das ist klar. Allerdings, wenn man sich die Minsker Vereinbarung vom Februar 2015 in Erinnerung ruft, so ging damals – bei aller berechtigten Kritik – diese Vermittlungsinitiative von Kanzlerin Angela Merkel und Präsident Francois Hollande aus. Keiner hat sie darum gebeten, aber die beiden haben trotzdem gehandelt und mitgeholfen, einen Deal mit Moskau zu erreichen. Das war wichtig, auch wenn dieses Abkommen diesen heutigen Angriffskrieg Russlands doch nicht verhindern konnte. Diplomatie darf sich nie ausruhen.“

Melnyk sieht eine paradoxe Situation in Deutschland: „Wegen der Erfolge von Sahra Wagenknecht und der Forderungen des BSW, auch auf Länderebene diplomatische Lösungen zu forcieren, steht nicht nur die CDU unter Druck, sondern auch die Ampel-Regierung. Bis zur Bundestagswahl wird dieser Druck noch steigen. Und da könnte Bundeskanzler Scholz aus innenpolitischen Gründen zur Erkenntnis gelangen, kluge Diplomatie sollte jetzt eingeleitet werden.“ Melnyk sagte weiter: „Die schockierenden Wahlerfolge von AfD und BSW, die als fünfte Kolonne Russlands agieren, waren eine Horrormeldung für die Ukrainer. Aber vielleicht werden sie für die Ampel ein Weckruf sein, auf – zugegeben kuriose – Weise, dass man diplomatische Initiativen auslotet, auch um diesen beiden populistischen Kräften den Wind aus den Segeln zu nehmen. Unser Ziel muss es ja sein, den Wahnsinn dieses blutigen Krieges so schnell wie möglich zu stoppen.“ Denn dem Botschafter ist klar, dass auch die Verhandlungen mit jedem Tag schwieriger werden, je länger der „verdammte Krieg“ dauert: „Wenn es doch zu Verhandlungen kommen sollte, wäre es überlebenswichtig, dass die Ukraine sehr gute Karten in den Händen hält– am besten alle vier Asse im Ärmel –, um Russland zum Rückzug zu zwingen. Gleichzeitig sollten deutsche Militärhilfen ausgeweitet werden, es geht vor allem um weitreichende Waffensysteme wie Taurus.“

Bundeskanzler Olaf Scholz spricht während der Präsentation des ersten deutschen Mittelstrecken-Luftverteidigungssystems IRIS-T SLM im Feldlager Todendorf, Norddeutschland.
Bundeskanzler Olaf Scholz spricht während der Präsentation des ersten deutschen Mittelstrecken-Luftverteidigungssystems IRIS-T SLM im Feldlager Todendorf, Norddeutschland.Daniel Bockwoldt/AFP

Melnyk räumte ein, dass sich die militärische Lage „in den vergangenen sechs Wochen dramatisch verschlechtert“ habe: „Die russische Walze rollt, und wir verlieren jeden Tag ein Stück von unserem Land und Menschenleben.“ Neben den Geländeverlusten im Donbass, wo die Russen zum wichtigen Infrastrukturknoten Pokrowsk vorrücken, hat die russische Armee die Bombardierung ziviler Ziele massiv intensiviert. Melnyk: „Bei einem perfiden Raketenangriff auf das historische Zentrum meiner Heimatstadt Lwiw hat mein guter Kollege im diplomatischen Dienst seine Schwester und seine drei Nichten verloren. Er war untröstlich. Es ist einfach herzzerreißend.“ Diese „brutalen Überfälle mit ballistischen Raketen, Marschflugkörpern und gelenkten Fliegerbomben verfolgen das Ziel, die ukrainische Bevölkerung psychologisch zu zermürben“. Melnyk: „Putin will, dass wir das Gefühl haben, es gäbe nirgends Sicherheit. Das ist verheerend für die Moral der Menschen.“ Er sei kürzlich in Kiew gewesen und es habe nur sechs bis acht Stunden Strom gegeben. Die Russen hätten die Stromversorgungskapazitäten der Ukraine zur Hälfte zerstört. Das bedeute auch, dass bei sommerlicher Hitze die Lebensmittel in den Kühlschränken verderben. An den nächsten Winter wolle man gar nicht denken, weil völlig unklar sei, wie geheizt werden könne. Die Lebensumstände und die Angst könnten neue Fluchtbewegungen auslösen: Das Ziel wäre dann Deutschland, was die Lage weiter erschwere.

Denn Melnyk sieht, dass es für die deutsche Politik immer mühsamer wird, Zustimmung für die Unterstützung der Ukraine im eigenen Land zu bekommen: „Ich verstehe, dass die deutsche Bevölkerung unruhig wird, wenn sie von den finanziellen Leistungen für Flüchtlinge aus der Ukraine hört. Vielleicht war das ein Fehler der Ampel, diese Sensibilität zu ignorieren und nicht früher nachzujustieren“, sagte Melnyk. „Zu unserem Leidwesen wurde dieses Thema im Wahlkampf zynisch instrumentalisiert.“ Nun gebe es „Hetzkampagnen gegen ukrainische Flüchtlinge, die angeblich zu faul sind, um zu arbeiten“. Obwohl das „absolut falsch“ sei, konnte „die AfD mit dieser miesen Stimmungsmache Wahlerfolge verbuchen“: „Es ist ungerecht und bitter, dass man dieses verzerrte Bild der Ukrainer schafft und dann als Vorwand benutzt, um die Unterstützung zu stoppen.“ Dazu komme ein weiterer „abwegiger Vorwurf, der lautet: Zum Dank zerstört die Ukraine unsere Infrastruktur und sprengt Nord Stream 2 in die Luft.“

Nord-Stream-Explosionen: Andrij Melnyk sieht dringenden Handlungsbedarf auf ukrainischer Seite.
Nord-Stream-Explosionen: Andrij Melnyk sieht dringenden Handlungsbedarf auf ukrainischer Seite.Verteidigungsministerium Dänemark

Was die Pipeline Nord Stream 2 betrifft, sieht Melnyk tatsächlich dringenden Handlungsbedarf auf ukrainischer Seite: „Es ist doch ein Wahnsinn – kein Mensch kann glauben, dass ein paar Leute mit einem Segelboot auf Befehl der ukrainischen Regierung aufs Meer fahren, um die Pipeline eines unserer wichtigsten Nato-Partner in die Luft zu sprengen. Wir haben nachrichtendienstliche Erkenntnisse, dass die Sprengung eine False-flag-Operation war – und die Röhren von den Russen angegriffen wurden, aber so, dass falsche Spuren hinterlassen wurden, um den Ukrainern die Schuld in die Schuhe zu schieben.“ Das zeige unter anderem das Timing: „Diese groteske Unterstellung wurde an die deutsche Öffentlichkeit gestreut zeitgleich mit der schmerzhaften Entscheidung der Ampel, bilaterale Militärhilfen für die Ukraine aus dem Bundeshaushalt in Zukunft einzustellen und durch ein Darlehen aus dem eingefrorenen Vermögen Russlands zu ersetzen; ein Konzept, das völlig in den Sternen steht. Wir hätten zu der Geschichte des Wall Street Journal nicht einfach schweigen dürfen.“ Melnyk weiter: „Die Ukraine hätte diesen absurden Vorwurf entschieden entkräften und offensiv erklären müssen, dass diese Geschichte falsch ist und jeder Logik entbehrt.“ Die Story sei „bewusst geleaked“ worden – und die deutschen Medien und die Gesellschaft hätten geglaubt, dass die Version dann auch stimmen müsse: „Es waren aber nur Behauptungen, es gibt keinen einzigen Beweis, und nun sieht es so aus, als ob die Sache klar ist, dass da wirklich die Ukraine dahintersteckt“, so Melnyk: „Es war ein Fehltritt der Ukraine, dass man diesem Narrativ nichts Überzeugendes entgegengesetzt hat.“ Es sei aber noch nicht zu spät, das Bild zurechtzurücken.

Präsident Selenskyj will nach Einschätzung Melnyks mit der jüngsten Regierungsumbildung das Ruder jedenfalls noch einmal herumreißen. Melnyk: „Der Präsident ist überzeugt, dass das Land für diese schwierige Situation frische Kräfte braucht.“ Die Staatsführung wolle „alles auf den Prüfstand stellen und mit neuen Ministern die bestehenden Herausforderungen meistern“. Den neuen Außenminister Andrij Sybiha kennt Melnyk sehr gut seit 1992. Die beiden sind Freunde, sie haben gemeinsam fünf Jahre in einer Gruppe an der Universität Lwiw studiert. Sybiha sei ein „sehr erfahrener Diplomat und gewiefter Unterhändler, der sein Handwerk bestens versteht“, sagt Melnyk über seinen Kollegen: „Ich traue ihm zu, die ukrainische Diplomatie zu stärken und neue Erfolge zu erzielen.“ Sybiha wirkte unter anderem von 2016 bis 2021 als Botschafter in der Türkei. Er gilt als loyaler gegenüber dem Leiter des Präsidialamts, Andrij Jermak.

Neben der Außenpolitik sei es nun vorrangig, die finanzielle Stabilität der Ukraine herzustellen. Das Land braucht weitere Milliardenkredite, und die würden nicht fließen, bevor die Rahmenbedingungen für Investments signifikant verbessert wurden. Für Sicherheit an den Finanzmärkten soll ein neues Team sorgen: Am Donnerstag stimmten die Abgeordneten im Parlament der Ernennung mehrerer weiterer Regierungsmitglieder zu – darunter Olha Stefanischyna als Justizministerin und Herman Smetanin als Minister für strategische Industrien, der damit künftig für die Rüstungsproduktion zuständig sein wird.

„Deutschland könnte eine diplomatische Vermittlung anstoßen“, sagt Andrij Melnyk im Gespräch mit der Berliner Zeitung.
„Deutschland könnte eine diplomatische Vermittlung anstoßen“, sagt Andrij Melnyk im Gespräch mit der Berliner Zeitung.Paulus Ponizak/Berliner Zeitung

Die Agrarpolitik der Ukraine, eines der größten Getreideproduzenten der Welt, soll künftig Witalij Kowal als Minister verantworten. Zur Ministerin für Veteranen, der angesichts der vielen kriegsversehrten Soldatinnen und Soldaten im Land innenpolitisch eine besondere Rolle zukommt, wurde Natalia Kalmykowa ernannt.

Andrij Melnyk hält es auch für wichtig, dass die ukrainische Regierung und ihre westlichen Verbündeten schon jetzt über langfristig relevante Themen zu sprechen beginnen: „Auch wenn der Krieg hoffentlich bald vorbei ist, gibt es keinen Anlass, sich zurückzulehnen. Ganz im Gegenteil: Man muss dafür sorgen, dass die Sicherheit der Ukraine gewährleistet wird – etwa für die Zeit, solange wir noch nicht in der Nato sind. Wie wird dann die Abschreckung gegenüber Moskau aussehen? Wie können wir sicherstellen, dass es zu keinem weiteren russischen Angriff kommt – auch in der Nach-Putin-Zeit? Das bedeutet für mich, dass die Ukraine noch viele Jahre nach dem Kriegsende mithilfe unserer Partner, vor allem Deutschlands, massiv militärisch aufgerüstet werden muss, um einen neuen Krieg Russlands zu verhindern.“