Die russisch-finnische Grenze ist rund 1340 Kilometer lang – sie ist die längste gemeinsame Landgrenze eines EU-Staates mit Russland. Bis zum russischen Angriff auf die Ukraine im Jahr 2022 pflegte Finnland wie kaum ein anderer westlicher Staat enge Beziehungen zu seinem östlichen Nachbarn. Obwohl die gemeinsame Geschichte von Kriegen, Konflikten, Grenzverschiebungen und Überfällen geprägt war, bemühten sich die Finnen lange Zeit, ein Gleichgewicht zwischen Aufrüstung und Entspannung zu wahren.
Finnland war bis 2023 bewusst kein Mitglied der Nato. Man war stolz darauf, den Begriff „Finnlandisierung“ geprägt zu haben – eine Politik der Neutralität, die es dem Land ermöglichte, sowohl zu den Nato-Staaten als auch zu Russland gute Beziehungen zu pflegen. 2010 nahm sogar ein direkter Expresszug zwischen Helsinki und Sankt Petersburg den Betrieb auf – ein Symbol für das gestiegene gegenseitige Interesse und die Blütezeit der Entspannungspolitik.
Erste Risse erhielt die Annäherung nach der russischen Annexion der Krim 2014. Die Beziehungen verschlechterten sich, doch der rege Austausch – besonders in den Grenzregionen – ging weiter. Dann folgte der Februar 2022. Eine historische Zäsur.
Wer heute nach Finnland reist, erlebt ein Land, das sich mental auf einen größeren Konflikt mit Russland eingestellt hat und von Entspannung nur noch in der Vergangenheitsform spricht. Das überrascht kaum: Auch in Zeiten guter Beziehungen blieb in Helsinki die Erinnerung an die sowjetisch-finnischen Kriege zwischen 1939 und 1944 stets präsent. Historisch gesehen war Finnland in den meisten Fällen Opfer von Großmachtinteressen, musste sich regelmäßig gegen ein imperiales Russland verteidigen. Die Traumata prägen das Land bis heute. Auch deshalb begann Finnland nach der Krim-Annexion, sich auf eine mögliche Eskalation der russisch-ukrainischen Spannungen vorzubereiten – begleitet von einer engeren Kooperation mit der Nato.
Mit dem 24. Februar 2022 kam die Wende: Der Expresszug zwischen Helsinki und Moskau wurde eingestellt, der Handel ging zurück. Finnland wurde Nato-Mitglied und wandte sich deutlich dem Westen zu. 2023 erreichte die negative Entwicklung für die finnisch-russischen Beziehungen ihren Höhepunkt: Nachdem etwa 1300 Asylsuchende versucht hatten, illegal die Grenze zu überqueren, schloss Finnland den Grenzverkehr zu Russland vollständig. Helsinki wertete die Vorfälle als gezielten Destabilisierungsversuch Moskaus. 2024 wurde die Grenzschließung schließlich auf unbestimmte Zeit verlängert – sie dauert bis heute an.
Derzeit gibt es nur wenige Finnen, die eine erneute Grenzöffnung befürworten. Das Vertrauen in die Sicherheitsmaßnahmen ist hoch – wie auch insgesamt das Vertrauen der Finnen in ihren Staat und seine harsche Russland-Politik. Wer als Finne heute Russland besuchen will, gelangt nur über Umwege dorthin – etwa über Estland, wo es geöffnete Grenzübergänge gibt. Selbst Polen hat noch eine geöffnete Grenze nach Russland.

Ein gezielter Angriff gegen Finnland eher unwahrscheinlich
Auf einer von der EU-Kommission organisierten Reise traf die Berliner Zeitung hochrangige Vertreter der finnischen Politik, die Einblick in ihre Sorgen über die Zukunft gaben – insbesondere vor einem möglichen Krieg und der wachsenden Bedrohungslage, die das Land für sich beansprucht. Finnland bereitet sich militärisch, politisch, logistisch und mental auf eine Auseinandersetzung mit Russland vor, und die Vorsorgemaßnahmen genießen in der Bevölkerung (es sind rund 5,6 Millionen Einwohner) erstaunlich hohen Rückhalt. Gerade durch die Nähe zu Russland und die gemeinsam geteilte Geschichte glauben die Finnen, die Russen und ihre Außenpolitik realistischer einschätzen zu können als ihre deutschen und französischen Partner.
Im Rahmen der Reise kam es zu einem Gespräch mit Sauli Niinistö, dem ehemaligen Präsidenten Finnlands (2012–2024). Auch nach dem Ende seiner Amtszeit ist Niinistö politisch aktiv: Als Sonderberater der Präsidentin der Europäischen Kommission setzt er sich für eine stärkere Krisenresilienz und eine verbesserte Sicherheitsarchitektur der EU ein. Außerdem verantwortet er den sogenannten Niinistö-Bericht, der eine EU-weite Strategie zur Krisenreaktionsfähigkeit umfasst.
Während seiner Präsidentschaft traf Niinistö wiederholt Wladimir Putin und führte mit ihm Verhandlungen. Manche bezeichneten Niinistö während seiner Amtszeit als „Putin-Flüsterer“, da er mit dem russischen Präsidenten einen engen, persönlichen und diplomatisch fruchtbaren Austausch pflegte, ohne Finnlands Sicherheitsinteressen aus dem Blick zu verlieren. Heute ist Niinistö überzeugt, dass Putin ein Machtstratege ist, dem man alles zutrauen sollte. „Putin glaubt, dass die EU schwach ist; dass der Westen schwach ist“, sagte Niinistö im Gespräch mit Journalisten. „Das nutzt er aus.“
In seinen Einschätzungen plädiert der ehemalige finnische Präsident dafür, ernsthafte Vorbereitungen für einen möglichen russischen Angriff auf ein EU-Land zu treffen. Er spricht sich für eine stärkere Aufrüstung der Nato aus. Der verpflichtende Wehrdienst sei eine weitere Maßnahme, die er unterstützt und die in Finnland seit 1919 existiert – mit positiven Konsequenzen für die Gesellschaft, so der ehemalige Präsident. „Der Wehrdienst schweißt unsere Jugendlichen zusammen und bereitet sie auf das Schlimmste vor.“
Einen gezielten Angriff auf Finnland hält Niinistö allerdings für unwahrscheinlich. „Ich glaube nicht, dass Putin allein Finnland angreifen will. Wenn es zu einem Angriff kommt, dann im Rahmen einer größeren Aktion gegen die Nato.“ Momentan beobachteten finnische Dienste keine Truppenkonzentrationen an der Grenze; das russische Militär sei in der Ukraine gebunden – eine Lage, die sich nach einem Waffenstillstand jedoch schnell ändern könnte, so Niinistö.

„Der Ukrainekrieg ist nur Teil eines größeren Projekts“
Gerade weil Finnland lange Zeit intensive Beziehungen zu Russland pflegte, ist es den Menschen wichtig zu betonen, dass sie die aktuellen Sicherheitsvorkehrungen nicht als Provokation missverstanden wissen wollen. Die Finnen wollen keinen Krieg; sie wollen lediglich auf einen russischen Angriff vorbereitet sein – so sagt es jedenfalls Finnlands Verteidigungsminister Antti Häkkänen von der Nationalen Sammlungspartei im Gespräch mit Journalisten. „Wir wollen Frieden. Wir investieren in unser Militär, um einen Krieg zu verhindern.“ Sowohl in Finnland wie auch in Polen als auch in den baltischen Staaten herrsche die Überzeugung, dass nur ein starkes, wehrfähiges Europa Putins Expansionspläne stoppen könne. „Viele Finnen sind überzeugt, dass Putin die russischen Einflusszonen aus der Zeit der Sowjetunion wieder herstellen will“, so der Verteidigungsminister. Nur Stärke schrecke ihn ab.
Man gehe davon aus, dass Russland in seinen geopolitischen Ambitionen von Ländern wie China und Indien unterstützt werde, umso mehr müsse sich die EU für einen Konflikt wappnen. „Der Ukrainekrieg ist nur Teil eines größeren Projekts“, sagt Häkkänen. Finnland beobachte die Situation konstant, verfalle dennoch nicht in Panik. Im Kalten Krieg seien weit größere Truppenkontingente russischer Soldaten in Grenznähe stationiert gewesen, auch da sei das Land vorbereitet gewesen, ohne sich von Kriegsängsten lähmen zu lassen. Häkkänen erklärt, dass Russland eine Militärreform plant, die eine größere Truppenstärkere und eine ausgeweitete Wehrpflicht vorsieht. Darauf müsse die EU und die Nato militärstrategisch reagieren.

Symbol für den Stillstand
Während der Reise zeigen Vertreter Finnlands und der EU die laufenden Vorbereitungen für einen Konflikt mit Russland an verschiedenen Orten des Landes. Am eindrucksvollsten ist wohl der neu errichtete Grenzzaun an der finnisch-russischen Grenze in Vaalimaa und der gesperrte Grenzübergang etwa zwei Stunden von Helsinki entfernt. Wer als Reisender dort hinfährt, sieht an einer vierspurigen Straße heute nur noch Stacheldraht und Barrikaden, wo einst reger Grenzverkehr den Alltag der Menschen bestimmte. Russland ist ganz nah, Sankt Petersburg ist nur 2,5 Stunden entfernt. Heute herrscht an der Grenze eine gespenstische Stille.
Das beste Symbol für diesen Stillstand, die Leere und den Kontaktabbruch zwischen Russen und Finnen ist genau dieser Grenzübergang – und ein Outlet-Center namens „Zsar“, das 2018 speziell für russische Touristen gebaut wurde und das heute komplett leer steht. Der Bürgermeister von Vaalimaa berichtet den Besuchern, dass Investoren das riesige Gebäude an der Grenze für einen Spottpreis verkaufen wollten – und dennoch konnten sie keinen Käufer finden. Die Region sei ein verlassenes Fleckchen Erde geworden, sie leide unter der wirtschaftlichen Flaute, die der Einbruch der Touristenzahlen verursacht hätte. Größere Proteste gegen die Maßnahmen seien dennoch ausgeblieben, so der Bürgermeister. Die Finnen akzeptierten die diplomatische Eiszeit. Ein Besitzer einer Brauerei protestiert allerdings im Gespräch mit deutschen Journalisten. Er will die Grenze wieder geöffnet sehen; er habe nichts gegen russische Kunden und sei frustriert über das ausbleibende Geschäft.

