Gastbeitrag

Die Logik des „ewigen Gegners“ war einmal: Der Westen sollte auf Eurasien zugehen

Lässt sich in Eurasien eine stabile Friedens- und Sicherheitsarchitektur entwickeln, die nicht von geopolitischen Machtkämpfen dominiert wird? Diese Chancen existieren. Eine Analyse.

Usbekistan, Samarkand: Die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen und der usbekische Präsident Schawkat Mirsijojew stellen sich für ein Foto vor dem ersten Gipfeltreffen zwischen den Staats- und Regierungschefs der EU und der fünf zentralasiatischen Länder.
Usbekistan, Samarkand: Die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen und der usbekische Präsident Schawkat Mirsijojew stellen sich für ein Foto vor dem ersten Gipfeltreffen zwischen den Staats- und Regierungschefs der EU und der fünf zentralasiatischen Länder.Uncredited/Uzbekistan's Presidential Press Office/AP/dpa

Lange als Randzone globaler Ordnung gesehen, rückt Eurasien zunehmend in den Mittelpunkt globaler Machtverschiebungen als strategischer Kern zwischen China, Russland, Zentralasien, Afghanistan, Iran, Indien und Pakistan. Die Region ist heute nicht nur Transitkorridor für Energie, Rohstoffe und Handel, sondern auch Schauplatz neuer sicherheitspolitischer Begehrlichkeiten. Von der chinesischen Belt and Road Initiative (BRI) über russische Vorschläge für eine kontinentale Sicherheitsarchitektur bis hin zu den wachsenden regionalen Formaten in Zentralasien – überall entstehen Bausteine einer neuen Ordnung, die nicht mehr von außen oktroyiert, sondern von den regionalen Schlüsselakteuren selbst gestaltet wird.

In diesem Teil der Welt formt sich gerade eine neue Realität – multilateraler, fragmentierter, zugleich aber offener für alternative Modelle. Der Wettbewerb um Eurasien muss nicht zwangsläufig Konfrontation bedeuten: Er kann auch als Chance begriffen werden, das sicherheitspolitische und wirtschaftliche Potenzial durch Kooperation statt durch ideologisch aufgeladene Rivalität zu erschließen.

Die entscheidende Frage lautet daher: Lässt sich in Eurasien eine stabile Friedens- und Sicherheitsarchitektur entwickeln, die nicht von geopolitischen Machtkämpfen dominiert wird, sondern vom politischen Willen, Konflikte konstruktiv und friedlich zu lösen? Und welchen Spielraum hat der transatlantische Westen, diesen Prozess mitzubestimmen und zu nutzen?

Von Großeuropa zur Großeurasien

In den 2000er-Jahren hielt Russland noch an der Vision eines „Großeuropas von Lissabon bis Wladiwostok“ fest – einer wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Gemeinschaft mit den führenden Staaten Europas. Sicherheit sollte aus Handel und Vertrauen erwachsen, Feindschaft durch Verflechtung überflüssig werden. Doch die Ukraine-Krise 2014 markierte schlussendlich das Scheitern dieses Projektes.

An seine Stelle trat das Konzept des „Großeurasiens“. Einer seiner Vordenker, Sergej Karaganow, verstand „Großeurasien“ zunächst als übergreifenden Raum für Entwicklung, Kooperation und Sicherheit, der alte Spaltungen überwinden und neue Bruchlinien verhindern sollte – mit Blick auch auf Europa. Seit 2022 jedoch beschränkt Moskau die Idee auf den asiatischen Teil des Kontinents und propagiert eine strategische „eurasische Autonomie“.

Ein Ausdruck dieses Ansatzes ist die „Eurasische Charta für Vielfalt und Multipolarität“, die Russland gemeinsam mit Belarus vorgelegt hat. Sie fordert eine neue kontinentale Sicherheitsarchitektur, richtet sich klar gegen „externe Einmischung“ und strebt eine engere Verzahnung regionaler Organisationen wie EAWU, SCO, ASEAN und Arabischer Liga an. Moskau inszeniert sich damit als Motor einer multipolaren Ordnung – und signalisiert zugleich, dass der Westen in der eurasischen Sicherheitspolitik künftig kaum mehr eine Rolle spielen soll.

In diesem Kontext ist auch die Entscheidung Russlands zu sehen, die Taliban-Regierung in Afghanistan anzuerkennen: weniger Ausdruck ideologischer Nähe als Teil einer neuen geopolitischen und geoökonomischen Strategie in Eurasien. Ob die Region tatsächlich zu einem stabilen Machtzentrum wird, hängt jedoch entscheidend von der Haltung Chinas, Indiens, der zentralasiatischen Staaten und anderer Akteure des Globalen Südens ab.

China und Zentralasien

Seit dem US-Abzug aus Afghanistan und Russlands Bindung im Ukrainekrieg hat China seine Position in Zentralasien systematisch ausgebaut – mit einem Mix aus wirtschaftlichen Partnerschaften, Infrastrukturprojekten und strategischer Diplomatie. Die BRI bildete den wirtschaftlichen Grundstein dieser Strategie, doch inzwischen wird die Region auch verstärkt zum Schauplatz chinesischer sicherheits- und geopolitischer Ambitionen.

Ein Wendepunkt war der erste eigenständige China-Zentralasien-Gipfel 2023. Dort präsentierte sich Beijing als selbstbewusster Gestalter des regionalen Ordnungsrahmens und versprach nicht nur Entwicklungshilfe und Energiekooperation, sondern auch eine engere sicherheitspolitische Abstimmung – ein deutliches Signal, dass es seine Rolle weit über die ökonomische Dimension hinaus versteht.

Nur zwei Jahre später wird die nächste Stufe dieser Strategie gezündet: die Unterzeichnung des „Vertrags über ewige gute Nachbarschaft, Freundschaft und Zusammenarbeit“. Dieses Abkommen schreibt unter anderem langfristige Verpflichtungen Chinas und Zentralasiens in Politik, Wirtschaft und Sicherheit fest. Besonders hervorzuheben ist die explizite Zusage, das gegenseitige Vertrauen in den Bereichen Verteidigung, Rüstungsindustrie und Sicherheitskooperation zu stärken. Damit beansprucht China nun auch formal eine aktivere Rolle in der regionalen Sicherheitsarchitektur – ein Bereich, der bislang stark von Russland dominiert wurde.

Zentralasien tritt auch zunehmend als eigenständiger sicherheitspolitischer Akteur auf. Die fünf Republiken haben ihre Beziehungen spürbar verbessert: Die Grenzziehung zwischen Kirgisistan und Usbekistan wurde abgeschlossen, ebenso ein historisches Abkommen zwischen Kirgisistan und Tadschikistan. Parallel wächst das regionale Sicherheitsbewusstsein – eine Entwicklung, die bereits nach dem westlichen Abzug aus Afghanistan 2021 einsetzte und sich seit dem Ukrainekrieg beschleunigt hat. Statt wie früher als Brückenkopf westlicher Operationen zu dienen, sehen sich die Staaten nun gezwungen, Bedrohungen wie Extremismus und Terrorismus selbst anzugehen. Symbol dieser Neuorientierung ist der im kirgisischen Cholpon-Ata im Juli 2022 auf Vorschlag des kasachischen Präsidenten Tokajew eingeführte Mechanismus, nach dem die nationalen Sicherheitsräte jährlich zusammenkommen, um gemeinsame Strategien zu entwickeln. Damit etabliert sich erstmals eine subregionale Sicherheitsarchitektur, die das Eigengewicht Zentralasiens in der eurasischen Ordnung sichtbar macht.

Die wachsende sicherheitspolitische Rolle Zentralasiens und der in China ansässigen Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) zeigt sich auch in der diesjährigen Entscheidung, drei neue spezialisierte SOZ-Zentren in der Region einzurichten. In Kirgisistan soll ein Zentrum zur Bekämpfung organisierter Kriminalität, in Usbekistan ein universelles Zentrum gegen moderne Bedrohungen und in Tadschikistan ein Anti-Drogen-Zentrum aufgebaut werden. Damit werden sicherheitspolitische Kompetenzen gezielt in den zentralasiatischen Staaten verankert und die Rolle der SOZ als regionaler Akteur weiter gestärkt.

Das strategische Dreieck Russland–China–Indien als neue Realität?

Die jüngste diplomatische Wiederbelebung zwischen China und Indien – sichtbar durch den jüngsten Besuch des chinesischen Außenministers Wang Yi in Neu-Delhi und das Treffen zwischen Narendra Modi und Xi Jinping am Rande des SOZ-Gipfels im chinesischen Tianjin – könnte sich als Wendepunkt für die Sicherheitsarchitektur in Eurasien erweisen. Jahrelang waren die Beziehungen zwischen den beiden Ländern von Spannungen geprägt – sei es durch den Grenzkonflikt im Himalaya oder die Rivalität im Indischen Ozean. Zwar sind die Gegensätze nicht verschwunden, doch die vorsichtige Entspannung signalisiert einen neuen Pragmatismus: Eine funktionierende Arbeitsbeziehung zwischen Beijing und Neu-Delhi reduziert das Risiko, dass lokale Streitigkeiten in regionale Krisen eskalieren und schafft ein stabileres Umfeld für die Stärkung der Rolle multilateraler Plattformen wie SOZ und Brics.

Einen Auftakt für diese vorsichtige Annäherung markierte bereits das Modi–Xi-Treffen beim Brics-Gipfel 2024 in Russland. Bemerkenswert ist, dass Modi seine Teilnahme am diesjährigen SOZ-Gipfel am 6. August ankündigte – am selben Tag, an dem Washington neue Zölle auf indische Waren verhängte.

Damit erhält auch das eurasische Dreieck Russland–Indien–China (RIC) neue Dynamik. Das von Moskau seit den 1990er-Jahren propagierte Format galt lange als Vision, gehemmt unter anderem durch die Gegensätze zwischen Beijing und Neu-Delhi. Doch die erratische US-Politik – etwa durch neue Zollschranken – wirkt inzwischen wie ein Katalysator, der Indien und China vorsichtig näher zusammenbringt und die Idee einer trilateralen Machtbalance in Eurasien neu belebt.

Der Westen außen vor?

Der transatlantische Westen liegt derzeit sowohl mit Russland als auch mit China im Clinch und droht in der sich rasant wandelnden regionalen Ordnung ins Hintertreffen zu geraten. Indien, der dritte Akteur im entstehenden Eurasien-Dreieck, bleibt ebenfalls kein einfacher Partner: Sanktionen gegen Russland belasten die Beziehungen zu Washington und Brüssel, während Neu-Delhi unbeirrt russisches Öl importiert.

Die USA suchen derweil nach einem neuen Zugang zur Region und setzen auf sichtbare Präsenz: In Kasachstan soll der größte Konsularkomplex Zentralasiens entstehen, erweitert durch Niederlassungen des Handelsministeriums, der Drug Enforcement Administration (DEA) und des Centers for Disease Control and Prevention (CDC) – ein deutliches Signal langfristigen Engagements. Europa versucht über die Global Gateway-Initiative Fuß zu fassen, mit Fokus auf Konnektivität, Energiediversifizierung und digitale Resilienz. Bislang bleibt die Strategie jedoch wenig greifbar.

Die Betrachtung Chinas und Russlands durch den transatlantischen Westen hauptsächlich als Gegner setzt ihm in Eurasien enge Grenzen. Sanktionen und externe Einflussnahme reichen nicht aus, um die Region zu gestalten. Entscheidend wäre eine pragmatische Neujustierung – ein Modus vivendi mit Moskau und Beijing, der Verständigungsspielräume öffnet. Interessant ist, dass Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hier als erster westlicher Spitzenpolitiker einen neuen Ansatz testet: Er und der indische Premierminister Modi haben vereinbart, bei der Vorbereitung der französischen G7-Präsidentschaft und der indischen Brics-Präsidentschaft im Jahr 2026 eng zusammenzuarbeiten. Ob dies den Beginn einer flexibleren europäischen Eurasien-Strategie markieren könnte, bleibt offen.

Das Potenzial Eurasiens als Raum für kooperative Geopolitik

Eurasien entwickelt sich zu einer vielschichtigen Sicherheitsarchitektur, geprägt von strategischer Autonomie und regionaler Handlungsfähigkeit – zugleich bleibt die Region spannungs- und konfliktreich. Als geopolitischer Knotenpunkt für Konnektivität, Energiesicherheit, Klimawandel, Terrorismusbekämpfung und Stabilität könnte Eurasien jedoch zum Labor kooperativer Geopolitik werden.

Für die USA und Europa bedeutet das: Eindämmung allein reicht nicht. Dialogbereitschaft, klare Definition eigener strategischer und wirtschaftlicher Interessen sowie eine pragmatische Neujustierung der Beziehungen zu Russland und China sind dringend geboten. Die Logik des „ewigen Gegners“ greift in einer sich wandelnden Weltordnung zu kurz. Eurasien wird zum Prüfstein für die Fähigkeit der Weltmächte, über alte Gegensätze hinauszudenken und sich auf eine belastbare globale Friedens- und Sicherheitsarchitektur zu verständigen.

Alexandra Sitenko ist politische Analystin und Wissenschaftlerin und lebt in Berlin.

Haben Sie Feedback? Schreiben Sie uns! briefe@berliner-zeitung.de