Nato-Gipfel

Nato-Gipfel in Vilnius: „Es wird definitiv eine Antwort Russlands geben“

Die litauische Sicherheits- und Russlandexpertin Dovile Jakniunaite erklärt, was sich der baltische Staat vom Nato-Gipfel erwartet.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan (l.) mit dem schwedischen Ministerpräsidenten Ulf Kristersson (r.) und NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg vor einem Treffen im Vorfeld des NATO-Gipfels in Vilnius.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan (l.) mit dem schwedischen Ministerpräsidenten Ulf Kristersson (r.) und NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg vor einem Treffen im Vorfeld des NATO-Gipfels in Vilnius.Pool Reuters/AP

Litauen gilt aufgrund seiner geografischen Lage zwischen Belarus und der russischen Exklave Kaliningrad als Achillesferse an der Ostflanke der Nato. Die Mitglieder des Verteidigungsbündnisses treffen sich zum ersten Mal in der litauischen Hauptstadt Vilnius. Höhere Verteidigungsausgaben, Sicherheitsgarantien für die von Russland angegriffene Ukraine und ein möglicher Beitritt Schwedens stehen auf der Agenda. Die litauische Sicherheitsexpertin Dovile Jakniunaite gilt als Kennerin der Russlandpolitik ihres Landes. Litauen sehe sich als Motor in der Nato, betont sie.

Frau Jakniunaite, im Vorfeld des Gipfels kündigte Litauens Regierung drastische Sicherheitsvorkehrungen an. Wie gehen die Menschen in Vilnius damit um?

Es gab sehr umfassende Informationen über die damit verbundenen Einschränkungen. Die Behörden rieten den Bürgern dazu, die Stadt zu verlassen, falls es möglich ist. Die Innenstadt ist gerade herrlich still. Keine Autos sind unterwegs und auch viel weniger Menschen. Die litauischen Medien berichten rund um die Uhr über den Gipfel.

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Zur Autorin
Dovile Jakniunaite leitet das Institut für Internationale Beziehungen an der Universität Vilnius. Die 45-Jährige beschäftigt sich mit der russischen Außenpolitik, Konflikten in ehemaligen Sowjetrepubliken und der EU-Außenpolitik gegenüber dem postsowjetischen Raum. Jakniunaite gilt in Litauen als Expertin für den Krieg in der Ukraine. 

Die Bundeswehr lieferte sogar Patriot-Abwehrraketen an Litauen, um Vilnius gegen Attacken aus der Luft zu verteidigen. Rechnet Litauen wirklich mit einem militärischen Angriff auf den Gipfel?

Offiziell gab es dazu kaum Erklärungen der Regierung. Die Sicherheitsvorkehrungen sind wirklich außergewöhnlich, und es sieht so aus, als wollte Litauen sich auf jedes Szenario vorbereiten. Ich erwarte eine russische Provokation, vielleicht keinen militärischen Angriff, sondern etwas Informelles, etwa Cyberangriffe auf Litauen. Es wird definitiv eine Antwort Russlands geben. Allerdings wird Litauen kaum das direkte Ziel sein. Ich fürchte, dass es traurigerweise die Ukraine treffen könnte.

Hat der Aufstand der Wagner-Gruppe die Bedrohungslage für Litauen verändert? Noch scheint unklar, ob die Wagner-Söldner wirklich bei Litauens Nachbarn Belarus ein neues Quartier finden.

Es ist derzeit auch nicht ausgeschlossen, dass zumindest einige Wagner-Söldner in unserem Nachbarland sind. Insgesamt halte ich die Auswirkungen für überschaubar. Eine mögliche Bedrohung durch Wagner ist aber ein großes Medienthema. Das Gefühl der Unsicherheit hat in Litauen zweifellos zugenommen. Sie wird derzeit von der Aufregung rund um den Gipfel überschattet.

Litauen setzt auf höhere Verteidigungsausgaben im Bündnis

Viele Beobachter erwarten einen historischen Gipfel. Sehen das die Gastgeber auch so?

Für Litauen trifft das Prädikat „historisch“ auf jeden Fall zu. Allein die Tatsache, dass sich die Nato zum ersten Mal in unserem Land trifft, ist einmalig in unserer Geschichte. Der Gipfel könnte auch für die europäische Sicherheit historisch werden. Die Mitgliedstaaten haben das Ziel, zwei Prozent ihrer Haushalte für Verteidigung auszugeben, bereits vor dem Gipfel beschlossen. Jetzt bräuchte es aus unserer Sicht noch Sicherheitsgarantien für die Ukraine mit Substanz. Es müsste deutlich erkennbar werden, dass die Nato ihre Ostflanke stärkt. Grünes Licht für den Beitritt Schwedens könnte dabei helfen.

Schweden im Bündnis würde das Baltische Meer zum Nato-Gewässer machen. Interpretieren Sie das Angebot Erdogans, den Nato-Beitritt Schwedens im Fall neuer Verhandlungen über den EU-Beitritt der Türkei zu billigen, als Entgegenkommen? Darauf kann sich die EU doch unmöglich einlassen.

Warten wir ab, was beim Gipfel zwischen der Türkei und den Partnern verabredet wird. Ich halte es für möglich, dass Erdogan noch auf dem Gipfel einlenkt. Vielleicht wird er die Entscheidung aber noch etwas hinauszögern.

Die baltischen Staaten wollen die Ukraine in der Nato

Sie zweifeln also nicht daran, dass Schweden bald Teil der Nato sein wird. Und die Ukraine?

Die Haltung der baltischen Staaten ist glasklar. Wir wollen eine Einladung an die Ukraine, dem Bündnis beizutreten. Es sollte schriftlich festgehalten werden, dass die Ukraine nach dem Krieg einen Platz in der Nato findet und welche Schritte dafür nötig sind.

Die harte Haltung der baltischen Staaten gegenüber Russland besteht nicht erst seit dem Beginn der Invasion in der Ukraine. Schließt sie auch Verständnis für die amerikanische Lieferung von geächteter Streumunition an die Ukraine mit ein?

Litauens Politik hat sich zu der Entscheidung Washingtons überhaupt nicht geäußert. Kritik wie aus manchen Nato-Ländern an der Lieferung von Streumunition durch die USA gab es zumindest öffentlich nicht.

Litauens Parteien sind sich bei der Verteidigungspolitik einig

Litauen gilt in der Nato als Musterknabe bei den Ausgaben für die Verteidigung. Gibt es in Litauen keine Stimmen, die das Geld lieber für Bildung oder Gesundheit ausgeben möchten?

Nein, darüber gibt es in Litauen keine Kontroverse. Es käme politischem Selbstmord gleich für eine Partei, in der jetzigen Lage an den Ausgaben für die Verteidigung zu zweifeln. Im kommenden Jahr sind in Litauen Parlamentswahlen. Wenn der Krieg in der Ukraine dann immer noch anhält, halte ich eine solche Debatte vor den Wahlen für ausgeschlossen.

Die baltischen Länder und Polen scheinen als maßgeblicher Unterstützer der Ukraine immer enger zusammenzurücken. Entsteht gerade ein neues Machtzentrum in Europa? Polen und Litauen haben ja schon einmal in einem gemeinsamen Staat bis zum Ende des 18. Jahrhunderts Mitteleuropa dominiert. 

Es wird tatsächlich viel über eine Verschiebung der Machtzentren in Europa in Richtung Osten gesprochen. Die meisten Entscheidungen fallen aber immer noch in den Hauptstädten Westeuropas. Dort ist auch immer noch das Geld. Ich sehe eher das Bemühen der Staaten in Mitteleuropa, etwas in der Sicherheits- und Außenpolitik zu bewegen und Gehör zu finden. Polen versucht in der Tat, ein entscheidender Faktor zu werden. Es gibt aber immer noch den Streit mit der EU-Kommission über die polnische Justizreform. Ich würde sagen, es ist derzeit offen, ob es Polen gelingt, seine Ambitionen auch umzusetzen.

Interview: Cedric Rehman