Wirtschaft in der Hauptstadt

Der Boom, der keiner ist: Rekord der Berliner Wirtschaft und was Statistiker damit zu tun haben

Plötzlich zehn Milliarden Euro mehr? Von der ernüchternden Suche nach den Ursachen für das neue Berliner Wirtschaftswunder.

Siemens in Moabit: Der Konzern ist der größte Industriearbeitgeber in Berlin.
Siemens in Moabit: Der Konzern ist der größte Industriearbeitgeber in Berlin.imago/Rainer Weisflog

Als im Frühjahr das regionale Statistikamt die ersten Zahlen zur wirtschaftlichen Entwicklung der Hauptstadt bekannt gab, überraschte die Berliner Industrie mit einem Kavaliersstart. Schon das erste Quartal dieses Jahres hatte das verarbeitende Gewerbe mit einem Umsatzplus von 32,3 Prozent abgeschlossen. Zur Jahreshälfte bezifferte das Amt das Plus bereits auf 48 Prozent. Inzwischen liegen die Umsätze der Berliner Industrie um knapp zehn Milliarden Euro über dem Ergebnis vor einem Jahr.

Damit steuert der produzierende Bereich der Hauptstadtwirtschaft auf einen Umsatzrekord zu. Aller Voraussicht nach wird die Branche zum Jahresende mehr als 35 Milliarden Euro auf dem Umsatzkonto haben. So viel wie nie zuvor. Aber warum ist das so? Warum boomt die Berliner Industrie, während die bundesdeutsche nur um 5,3 Prozent zulegte und Krieg, Energiekrise, Inflation und unterbrochene Lieferketten doch allen zu schaffen machen?

Beim Amt für Statistik Berlin-Brandenburg ist dazu zunächst nichts zu erfahren. Man verweist auf die nackten Zahlen, nach denen von den 319 Berliner Industriebetrieben in den ersten neun Monaten insgesamt 29,1 Milliarden Euro erwirtschaftet wurden. Es fällt auf, dass allein die Inlandsumsätze um 94,5 Prozent zugelegt haben.

Aber dann gibt es doch noch einen Hinweis. Es gebe ein Unternehmen in der Industrie-Statistik, das dort erst seit Jahresbeginn geführt wird. Einen Namen will Heike Hendl, Sprecherin des Amts für Statistik, nicht nennen und begründet dies damit, dass Angaben zu einzelnen Unternehmen der Geheimhaltungspflicht unterlägen. Man müsse ausschließen, dass aus den veröffentlichen Zahlen genaue Angaben zu einzelnen Unternehmen abgeleitet werden können. Nur so, sagt Hendl, könne „die für die Aussagefähigkeit der Daten unabdingbare Vertrauensbasis“ geschaffen und erhalten werden.

Immerhin ist an anderer Stelle der amtlichen Datenbank dann noch zu erfahren, dass es sich bei dem Unternehmen um eines aus dem Energiesektor handelt. Noch tiefer ist dies dem Wirtschaftszweig 192 zugeordnet, der für Kokerei und Mineralölherstellung steht. Vor einem Jahr war diese Position noch eine Leerstelle. Hat sich im zurückliegenden Jahr also ein milliardenschweres Unternehmen neu in Berlin angesiedelt?

Nur zwei Mineralöl-Unternehmen in Berlin ansässig

Beim Bundesverband der Energie und Wasserwirtschaft weiß man davon nichts und auch beim Wirtschaftsverband Fuel und Energie ist keine Ansiedlung eines Energieunternehmens mit Umsatz in Milliardenhöhe bekannt. „Definitiv nein“, sagt dessen Sprecher, Alexander von Gersdorff.

Wir fragen also nochmals im Amt für Statistik nach. Wäre es möglich, dass das betreffende Unternehmen schon längere Zeit in Berlin beheimatet ist, bislang allerdings einem anderen statistischen Wirtschaftsbereich zugeordnet war? Amtssprecherin Heike Hendl bestätigt das. „Ja, das ist so“, sagt sie. Das Unternehmen sei dem Wirtschaftszweig 192, also Mineralölherstellung, neu zugeordnet worden.

Laut Mineralölwirtschaftsverband gibt es tatsächlich nur zwei Mineralöl-Unternehmen mit Sitz in Berlin. Das ist einerseits das Unternehmen Total Energies sowie die inzwischen verstaatlichte deutsche Tochter des russischen Rosneft-Konzerns. Da Total hierzulande vor allem Tankstellen betreibt, aber kein Mineralölhersteller ist, bleibt nur noch Rosneft Deutschland mit seinen Beteiligungen an drei deutschen Ölraffinerien. Zu den aktuellen Umsätzen war dort keine Antwort zu bekommen. Dem jüngsten veröffentlichten Geschäftsbericht zufolge erwirtschaftete das Unternehmen 2020 – bei deutlich niedrigeren Ölpreisen und mitten in der Pandemie – einen Umsatz von 4,46 Milliarden Euro.

Im Amt für Statistik wird die Neueinordnung des Unternehmen mit einem Wechsel des wirtschaftlichen Schwerpunkts begründet. „Der Wirtschaftszweig, in dem der meiste Umsatz erzielt wird, ist entscheidend für die Zuordnung des Unternehmens“, erklärt Hendl. In welchem Zweig der Betrieb zuvor gelistet war, will sie nicht verraten.

Offenbar sah man sich im hiesigen Amt für Statistik zu der Neusortierung veranlasst, als Rosneft im November vergangenen Jahres seine Beteiligung an der Schwedter PCK-Raffinerie auf 92 Prozent aufstockte und sich für die Statistiker damit eindeutig vom Handelsunternehmen zum Hersteller wandelte. Zumal Rosneft Deutschland auch an Raffinerien im bayerischen Vohburg und in Karlsruhe zu je etwa einem Viertel beteiligt ist. Im September wurde das Unternehmen verstaatlicht.

Unter dem Strich ist der vermeintliche Boom der Berliner Industrie also tatsächlich am Schreibtisch der Statistiker entstanden. Es wird weder mehr noch weniger Steuereinnahmen geben. Aber für die Branche sieht es weniger rosig aus. Im September, weiß man im Amt für Statistik, lagen die Auftragseingänge um 9,8 Prozent unter dem Vorjahreswert.