Ukraine

Bürgermeister von Kiew vermutet mehr als 300 zivile Opfer in Butscha

Russland weist jede Verantwortung zurück. Der ukrainische Verteidigungsminister droht mit Vergeltung.

Eine Frau geht auf einer Straße in der ukrainischen Stadt Butscha.
Eine Frau geht auf einer Straße in der ukrainischen Stadt Butscha.AP/Rodrigo Abd

Ljuba führt ihren Nachbarn zum Rand der Grube im nassen Lehmboden. Hier in dem Massengrab soll sein Bruder liegen – eines der vielen Opfer der russischen Gräueltaten im ukrainischen Butscha. Doch dem Mann fehlt die Kraft, einen Blick auf die Toten zu werfen. Er sackt auf einem umgefallenen Baumstamm zusammen. In der Grube seien 57 Menschen notdürftig bestattet worden, sagt ein städtischer Angestellter. Einige stecken in schwarzen Leichensäcken, ein Toter ist in ein rot-weißes Bettlaken eingewickelt, daneben liegt eine rosa Frauensandale. Viele sind nicht einmal vollständig begraben. Hier ragt eine blasse Hand aus der Erde, dort ein Fuß in einem Stiefel. Schnee fällt auf die Toten, im Hintergrund sind die goldenen Kuppeln einer Kirche zu sehen.

Lesen Sie hier den Kommentar von Maritta Tkalec

Über einen Monat lang war die Kleinstadt im Nordwesten von Kiew von russischen Truppen besetzt und schwer umkämpft. Nach der Rückeroberung durch die ukrainische Armee Ende vergangener Woche wurde das Ausmaß der Gewalt und Zerstörung offenbar. Die Regierung in Kiew spricht von einem „Massaker“. „Diese Wunde wird nie heilen“, sagt die 62 Jahre alte Ljuba. „Das würde ich nicht einmal meinem ärgsten Feind wünschen.“

Auf einer schmalen Straße in der Nähe des Massengrabes liegen weitere Tote. Vier Männer sind mit einem Transporter zwischen den Häuserruinen unterwegs, um die Leichen zu bergen. Einer der Toten hat seine Beine in den Rädern eines Fahrrads verheddert, andere liegen neben von Kugeln durchlöcherten Autos. Alle tragen Zivilkleidung.

Butscha ist eine Pendlerstadt im Nordwesten von Kiew mit rund 37.000 Einwohnern. Gleich zu Beginn des Krieges am 24. Februar wurde Butscha ebenso wie die Nachbarstadt Irpin angegriffen und zum Schauplatz heftiger Kämpfe. Irpin wurde durch die Fotos von Menschen auf einem Notsteg über die gesprengte Brücke bekannt. Es war der einzige Weg in den Vorort. Die Brücke war von der ukrainischen Armee gesprengt worden, um das Vorrücken russischer Truppen zu verhindern. Über eine Behelfsbrücke konnte man in die Stadt gelangen. Butscha war bis jetzt nicht gleichermaßen in den Schlagzeilen.

Butscha wird am 26. Februar von russischen Truppen besetzt

Am 26. Februar besetzten die russischen Truppen Butscha und riegelten die Stadt mehr als einen Monat von der Außenwelt ab. Am Donnerstag endete die Besatzung und die ukrainische Armee erlangte in den vergangenen Tagen wieder die Kontrolle.

Die Menschen, die in der Stadt geblieben waren, mussten wochenlang ohne Strom und Wasser bei eisigen Temperaturen ausharren. Zeugen berichteten der Nachrichtenagentur AFP, unter den Besatzern seien auch tschetschenische Kämpfer gewesen.

Leichen liegen auf den Straßen von Butscha

AFP-Reporter zählten am Sonnabend die Leichen von mindestens 22 Menschen in Zivilkleidung in einer einzigen Straße. Mindestens zwei der Getöteten wiesen große Kopfwunden auf. Die Gesichter der Leichen sahen wächsern aus, was darauf hindeutet, dass sie bereits seit mehreren Tagen dort lagen. Die russischen Soldaten hätten die Zivilisten mit einem „Schuss in den Nacken“ getötet, sagte der Bürgermeister von Butscha, Anatoly Fedoruk.

Ein Mitglied der zivilen Schutztruppe deckt betrachtet unter einer Decke am Rande der Autobahn, 20 km von Kiew entfernt, vier tote Zivilisten. Fast 300 Zivilisten wurden entlang der Straße zwischen Zhytomyr und Kiew in der Nähe von Butscha getötet. Die meisten Opfer versuchten, den Fluss Buchanka zu überqueren, um das ukrainisch kontrollierte Gebiet zu erreichen, und wurden dabei getötet.
Ein Mitglied der zivilen Schutztruppe deckt betrachtet unter einer Decke am Rande der Autobahn, 20 km von Kiew entfernt, vier tote Zivilisten. Fast 300 Zivilisten wurden entlang der Straße zwischen Zhytomyr und Kiew in der Nähe von Butscha getötet. Die meisten Opfer versuchten, den Fluss Buchanka zu überqueren, um das ukrainisch kontrollierte Gebiet zu erreichen, und wurden dabei getötet.dpa/Mykhaylo Palinchak

Massengrab hinter der Kirche

Nach seinen Angaben wurden insgesamt 280 Menschen in Massengräbern bestattet, weil die Friedhöfe beschossen wurden. „Wir haben Massengräber gefunden. Wir haben Menschen mit gefesselten Händen und Beinen gefunden, mit Einschusslöchern im Hinterkopf“, sagte der ukrainische Präsidentensprecher Sergej Nikiforow am Sonntag dem britischen Sender BBC.

Die genaue Zahl der Opfer ist noch unbekannt. „Wir glauben, dass mehr als 300 Zivilisten gestorben sind“, sagte der Bürgermeister von Kiew, Vitali Klitschko, am Sonntag bei seinem Besuch in Butscha. „Das ist kein Krieg, das ist ein Völkermord, ein Völkermord an der ukrainischen Bevölkerung.“

Eine BBC-Reporterin veröffentlichte am Montag ein Foto von einem flachen Grab mit vier Leichen im Ort Motyschin rund 40 Kilometer südwestlich von Butscha. Drei der Opfer hätten zu einer Familie gehört, darunter die Bürgermeisterin Olga Sohnenko. Das vierte Opfer konnte noch nicht identifiziert werden.

Die russische Regierung weist alle Vorwürfe zurück. Es sei eine Falschnachricht, dass die russische Armee die Gräueltaten in Butscha verübt habe. „Wir weisen alle Anschuldigungen kategorisch zurück“, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow am Montag der Agentur Interfax zufolge. Zugleich warnte er internationale Politiker vor voreiligen Schuldzuweisungen. Es müssten alle Seiten gehört werden. Peskow sagte, der Fall müsse auf höchster Ebene im UN-Sicherheitsrat besprochen werden. Er kritisierte, dass eine entsprechende Initiative blockiert worden sei. Zugleich stellte Peskow die Echtheit der zahlreichen Aufnahmen der toten Zivilisten infrage. Russland hatte vielmehr die ukrainische Armee und ihren möglichen Beschuss der Stadt, zu einem Zeitpunkt, als die russischen Truppen die Stadt bereits verlassen hatten, für die Toten verantwortlich gemacht.

Weltweit gab es entsetzte Reaktionen auf die toten Zivilisten. „Die Massaker in der Stadt Butscha und anderen ukrainischen Städten werden in die Liste der auf europäischem Boden begangenen Gräueltaten aufgenommen“, betonte der EU-Außenbeauftragte. Um die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, unterstütze die EU die Ukraine bei ihren Ermittlungen zu möglichen Kriegsverbrechen, aber auch den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag sowie die Uno. Die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, hat eine unabhängige Untersuchung der möglichen Massaker an Zivilisten durch russische Truppen in der Ukraine verlangt. Sie sei entsetzt über die Bilder von Leichen auf den Straßen und in Gräbern in der Stadt Butscha, sagte Bachelet am Montag in Genf.

Der ukrainische Verteidigungsminister Olexij Resnikow hat der russischen Armee ein Massaker an Zivilisten in dem ukrainischen Ort Butscha vorgeworfen und mit Vergeltung gedroht. „So etwas Böses darf nicht ungestraft bleiben“, sagte er am Montag in Kiew. „Unsere Aufklärung identifiziert systematisch alle Eindringlinge und Mörder. Alle! Jeder wird zu seiner Zeit bekommen, was er ‚verdient‘ hat“, hieß es in der auf Facebook veröffentlichten Mitteilung.