In den vergangenen 15 Jahren wurden in Berlin sieben Volksentscheide umgesetzt. Fünf sind gescheitert, zwei wurden angenommen. Der letzte Volksentscheid in Berlin, „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“, ist einer der beiden. Anschließend wurde bisher jedoch lediglich eine Kommission gebildet, die die Rechtmäßigkeit der Enteignungsmaßnahmen prüft. Ende März dürfen Berliner ihre Stimme nun erneut abgeben und über eine Änderung des Klimaschutz- und Energiewendegesetzes entscheiden.
Die Erfolgsquote direktdemokratischer Abstimmungsverfahren liegt bundesweit bei 27,7 Prozent. In den meisten Fällen scheitert ein Volksentscheid an einer zu geringen Bürgerbeteiligung. Gleichzeitig sinkt nach Angaben verschiedener Studien und Befragungen das Vertrauen in die Politik. Der Wunsch nach direktdemokratischen Elementen steigt. Wie passt das zusammen?
Wolfang Merkel ist Politikwissenschaftler und Experte im Bereich der Demokratieforschung und vergleichender Politikwissenschaft. In einem Gespräch mit der Berliner Zeitung äußert er sich zur Relevanz und zur Durchsetzungskraft von Volksentscheiden. Nicht nur dem bevorstehenden Klimavolksentscheid ist Merkel gegenüber kritisch eingestellt.
Berliner Zeitung: Herr Merkel, haben Sie den Eindruck, dass der Wunsch nach mehr Bürgerbeteiligung in den letzten Jahren zugenommen hat?
Wolfang Merkel: Ja, das hat er. Das hängt mit der krisenhaften Entwicklung unserer Demokratie zusammen. Insbesondere das Vertrauen der Bürger und Bürgerinnen gegenüber den Institutionen schwindet oder ist unangemessen niedrig. Das gilt in besonderem Maße für Parteien und Parlamente. Damit steigt der durchaus positive Drang politisch denkender Bürger sich selbst direkt in die Politik einzumischen. Je mehr dies gelingt und Spuren in der Gesetzgebung hinterlässt, umso mehr können sich die BürgerInnen mit dem demokratischen Gemeinwesen identifizieren. Da können wir von der Schweiz lernen.
Würden Sie der These zustimmen, dass bei Volksentscheiden nur die gebildete Minderheit ihre Stimme abgibt und der ungebildeten Mehrheit eine Entscheidung aufzwingt?
Das wäre meine Kritik an Volksabstimmungen. Sie sind sozial noch selektiver als Parlamentswahlen, auch jene zum Berliner Abgeordnetenhaus. Die unteren Bildungsschichten bleiben zu Hause. Die politisierten akademischen Mittelschichten wählen. Aber gerade diese sind schon in allen Repräsentanzen unserer Demokratie stark überrepräsentiert. Es stimmt damit nicht das „Volk“, sondern eine mittelschichtsverzerrte Schrumpfversion des Volkes ab. Das ist das Problem vieler Volksabstimmungen. Die Faustregel heißt: je niedriger die Wahlbeteiligung, umso höher die sozialstrukturelle Schieflage.

Sollten Volksentscheide nach einer bestimmten Zeit wiederholt werden, da sich die politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten geändert haben könnten?
Ja, sie sollten zumindest wiederholt werden können. Der Zeitabstand sollte aber deutlich über eine Legislatur hinausgehen. Das verlangt die Achtung vor dem demokratischen Souverän, dem Volk. Die Direktentscheidung des Volkes muss eine längere Verfallszeit haben als rein parlamentarische Gesetze. Denn das Parlament ist nur ein Souverän zweiten Grades von dem ersten Souverän, dem Volk auf Zeit gewählt.
Die Demokratie zeichnet sich durch Revisions- und Lernfähigkeit aus. Ändern sich Problemlagen und politische Mehrheiten, sind auch Volksentscheide nicht in Stein gemeißelt. Dies gilt etwa auch für das Tempelhofer Feld.
Mit Blick auf den Volksentscheid aus dem Jahr 2021 „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“, der bis heute keine rechtlichen Konsequenzen nach sich zog, stellt sich die Frage, ob ein Volksentscheid nur symbolisch eine Wirkung erzielen kann?
Bei dem Entscheid handelt es sich um einen Volksentscheid über einen Beschluss zur Erarbeitung eines Gesetzentwurfs. Das ist ein sogenannter Beschlussentscheid. Er unterscheidet sich vom „Gesetzesvolksentscheid“, bei dem ein schon formulierter Gesetzentwurf zur Abstimmung gestellt wird. Der Beschlussentscheid gibt dem Senat und dem Abgeordnetenhaus einen größeren Spielraum. Dort gibt es augenscheinlich keine Mehrheit für ein solches Gesetz. Dennoch ist das dilatorische Aufschieben der Umsetzung oder der Ablehnung des Beschlussentscheids kein Glanzstück der Demokratie. Das kostet Vertrauen unter den Bürgern.
Das Bündnis des Volksentscheides „Berlin 2030 Klimaneutral“ fordert auch, dass der Fokus in allen politischen Bereichen in Zukunft auf klimapolitischen Entscheidungen liegen soll. Halten Sie diese Zielsetzung für realistisch und sinnvoll?
Nicht alle Materien eignen sich für Volksabstimmungen. Diese Verpflichtung macht den Volksentscheid überkomplex und damit wenig geeignet für eine Volksabstimmung. Wenn der Fokus oder gar Primat aller politischen Entscheidungen auf „klimapolitischen Entscheidungen“ liegen soll, hat das Auswirkungen auf die Haushalts-, Wirtschaft-, Sozial-, Verkehrspolitik und alle möglichen Bereiche. Solche Konsequenzen können nicht einmal Berufspolitiker oder Wissenschaftler realistisch bis 2030 voraussehen, geschweige denn der Normalbürger. Im Übrigen würde dies den Handlungsspielraum der gewählten Politiker in einer unangemessenen Weise einschränken. Das wäre nicht nur ein Problem für rationale Politikgestaltung, sondern für die repräsentative Demokratie selbst. Es ist etwas anderes über die Bebauung eines ausgedienten Flughafens zu entscheiden als über komplexe Politikpakete für die nächste Dekade. Dass ein solches Bündel von Politikpaketen mit nur „mindestens einem Viertel der Wahlberechtigten“ angenommen werden kann, macht die demokratische Legitimitätsdecke ausgesprochen dünn. Zu dünn für solch folgenreiche Entscheidungen. Wollen wir weniger Demokratie wagen? Ausgerechnet mit Volksentscheiden?




