In der Berliner SPD rumort es seit der Wahlniederlage im Februar, und es läuft auf ein Ende des Zweckbündnisses zwischen Franziska Giffey und Raed Saleh hinaus. Die Partei will, dass nur einer von beiden an der Parteispitze bleibt. Noch bleibt Zeit für eine Entscheidung, aber vor allem für Franziska Giffey ginge es ans Eingemachte. Wenn sie Spitzenkandidatin für die Wahl im Jahr 2026 werden möchte, müsste sie über 2024 hinaus Parteivorsitzende bleiben. Als geschwächte Vizeregierungschefin und Wirtschaftssenatorin hätte sie nicht die natürliche Autorität, den berühmten „ersten Zugriff“ auf die Kandidatur zu beanspruchen.
Raed Saleh, dem immer wieder eigene Ambitionen auf das Rote Rathaus nachgesagt werden, könnte dagegen immer noch auf seine starke Position als Fraktionschef bauen. Diesen Posten, den er seit zwölf Jahren innehat, muss er sich bekanntlich mit niemandem teilen. Anders als etwa Linke oder Grüne hat die Berliner SPD an dieser Stelle keine Doppelspitze.
Beim mit Spannung erwarteten ersten Parteitag nach der Wahlschlappe bestimmten die Jusos am Freitagabend den Ton. „Raed und Franziska, ihr habt noch nicht genug Verantwortung dafür übernommen. Ihr habt noch nicht genug erklärt, wie es zu dieser Niederlage gekommen ist.“ So sagte es die Juso-Vorsitzende Sinem Tasan-Funke. Damit war der Moment zur ersten öffentlichen Aussprache gekommen. Darüber, wie es zum zweiten historisch schlechtesten Wahlergebnis der Berliner SPD hatte kommen können und infolgedessen zum Bruch der Koalition mit Grünen und Linken inklusive Verzicht aufs Rote Rathaus, zur Koalition mit der CDU und am Ende zur Wahl Kai Wegners zu Berlins Regierendem Bürgermeister.
Während Raed Saleh in einer betont ausgleichenden Rede vor allem die Diskussionsfreude der Partei lobte, präsentierte sich Franziska Giffey anfangs recht nervös, fast fahrig. Erst spät fand sie in ihre Rolle, in der man sie seit Jahren kennt: bodenständig, klar, kantig. Es sei so viel von „progressiver Politik“ die Rede, die man bei Rot-Grün-Rot betrieben habe und die man nach der Wahlwiederholung doch hätte weitermachen können, sagte sie. Und: „Progressive Politik!? Es gibt ganz viele Menschen, die gar nicht wissen, was das ist.“
Franziska Giffey hält nichts von „progressiver Politik“
So etwas kommt natürlich nicht gut an bei den Jusos und den vielen anderen Linken in der Partei. Die könnte man wahrscheinlich nachts um drei wecken, und sie würden einen halbstündigen Vortrag über „progressive Politik“ halten könnten, der in jedem Politologie-Proseminar bestehen würde.
Auch Giffeys weitere Einlassungen zu Sinn, Zweck und Zielen der SPD stießen auf Vorbehalte. „Linker als die Linken“ wolle man sein? „Grüner als die Grünen?“, fragte Giffey rhetorisch. Um dann gleich die Antwort zu geben: Nein, das führe die Partei in die Bedeutungslosigkeit. Deshalb habe sich für sie ein Weiter-so nach der Wahlniederlage auch verboten. Aus ihrer Sicht war schließlich bereits die Fortführung des Bündnisses mit Grünen und Linken nach der Wahl 2021 ein Fehler. „Wir sind zerrieben worden.“ Doch jetzt, in der schwarz-roten Koalition, sehe sie eine große Chance: „Wir können das sozialpolitische Korrektiv sein.“ Das sei der Markenkern der SPD, dieses Profil müsse man schärfen.
"Damit unsere Partei Luft zum Atmen für eine eigenständige Rolle in der Regierung bekommt." Auf dem #Landesparteitag der @spdberlin haben wir schonungslos auf zwei harte Jahre zurückgeblickt. Der Prozess der Neuaufstellung bis zur Spitze beginnt heute. https://t.co/yhjSNvRvjS 🏗️ pic.twitter.com/hHzsGdNPOk
— Mathias Schulz (he/him) (@MathiasSchulz) May 27, 2023
Auf dem Parteitag war die Stimmung eine andere. In vielen Wortbeiträgen wurden sozialdemokratische Konzepte zur Verkehrs-, Klima- und Sonstwiepolitik eingefordert. Aber eigentlich ging es um etwas anderes: Mit Spannung war ein Antrag der Jusos erwartet worden, die die Machtverhältnisse im geschäftsführenden Landesvorstand ändern wollen. Dazu gehören zurzeit Franziska Giffey (Wirtschaftssenatorin und Vizeregierungschefin) und Raed Saleh (Chef der Abgeordnetenhausfraktion) sowie deren Stellvertreter Cansel Kiziltepe (Arbeitssenatorin), Ina Czyborra (Wissenschaftssenatorin), Rona Tietje (Stadträtin in Pankow), Kian Niroomand (Kreisvorsitzender in Charlottenburg-Wilmersdorf) und der Schatzmeister Michael Biel (Staatssekretär in Giffeys Wirtschaftsverwaltung).
Am Ende wurde es ein Kompromiss: Nun sollen künftig in diesem siebenköpfigen Gremium Senatoren, Staatssekretäre und/oder Fraktionschefs nicht mehr in der Mehrheit sein. Die Doppelspitze ganz vorne „sollte“ dem Beschluss zufolge „nicht vollständig“ aus Personen bestehen, die gleichzeitig maßgeblich die Regierung tragen.
Juso-Antrag auf Berliner Parteitag: Vage Formulierungen machten ihn erst mehrheitsfähig
„Sollte“, „nicht mehrheitlich“, „nicht vollständig“. Es waren diese Einschränkungen, die den Juso-Antrag schließlich erst zum vollen Erfolg führten. Die hinreichend vagen Formulierungen und das Wissen darum, dass die endgültigen personellen Entscheidungen erst beim nächsten Wahlparteitag im Juni 2024 gefällt werden, ließen ihn passieren. Die Revolution ist also ausgeblieben.
Dennoch: Obwohl die Formulierungen vage sind und obwohl bis Juni 2024 noch viel passieren kann, läuft nach jetzigem Stand der Dinge bei den Berliner Sozialdemokraten vieles auf die Machtfrage zwischen Raed Saleh und Franziska Giffey hinaus. Beim Parteitag waren die unterschiedlichen Rollen einmal perfekt zu beobachten. Während Giffey vor der Tür ein Interview für die RBB-Abendschau gab, bewegte sich Saleh stundenlang nicht von seinem Stuhl weg: erste Reihe Mitte, jeden Redner klar und fest im Blick. Fast jeder Redner sprach ihn auch persönlich an. Bei Franziska Giffey war das nicht der Fall.


