Brutal Berlin

Vorbild Ballermann und Bali: Auch Berlin-Touristen brauchen Benimmregeln

Viele Länder setzen Besuchern inzwischen deutliche Grenzen. Wir finden: Auch Berlin könnte einen Touri-Knigge gebrauchen. Einige Vorschläge aus unserer Redaktion.

Künftig mit Knigge: Stadtführung vor dem Brandenburger Tor.
Künftig mit Knigge: Stadtführung vor dem Brandenburger Tor.Jörg Carstensen/dpa

Auslandsreisen sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Ausschweifender Partytourismus, Saufgelage und Vandalismus befördern in immer mehr übervollen Ferienhotspots disziplinarische Maßnahmen, gerne auch Benimmregeln genannt.

Und so verschwinden die Sangria-Eimer vom Ballermann, an der Playa de Palma auf Mallorca muss man jetzt den Oberkörper bedecken, Sex am Hotelfenster und Flatrate-Trinkgelage sind verboten. Auch anderswo verordnen Behörden den Gästen von außerhalb einen Knigge.

So bekommen Einreisende auf Bali nun gleich am Flughafen einen Leitfaden mit Benimmregeln in den Pass geheftet. Da heften wir uns doch sehr gern dran und verordnen auch Berlin-Besuchern mal ein paar Gebrauchshinweise für ihren Aufenthalt in der Stadt.

1. Bringt Bargeld mit

20 Euro in der Tasche und der Tag in Berlin ist dein Freund.
20 Euro in der Tasche und der Tag in Berlin ist dein Freund.Francesca Arena für Berliner Zeitung am Wochenende

Es gibt auf der Chausseestraße in Mitte einen Italiener, da läuft es noch etwas oldschool. Da sagt die Bedienung am Ende des Abends mit untröstlichem Gesicht: „Unsere Maschine ist kaputt, sorry, deshalb nur Bargeld heute.“ In sämtlichen asiatischen Restaurants auf der Kastanienallee in Prenzlauer Berg läuft es direkter ab, da hängen Schilder im Fenster: „Only Cash“. In beiden Fällen sind sicherlich mafiöse Strukturen im Hintergrund, in beiden Fällen steht „zufälligerweise“ ein Geldautomat gleich nebenan (7 Euro Gebühr), und sicherlich ist das ärgerlich und ein bisschen altmodisch. Touristen und Einheimische haben alles Recht, sich über diese erschreckend offene Form der Geldwäsche aufzuregen. Aber das ändert nichts an der Grundregel für das Überleben in Berlin: Habt einfach immer Bargeld dabei, mindestens 20 Euro, okay? Sören Kittel

2. Immer Handschuhe beim Straßenshoppen tragen

Berlin ist ein einziger Pop-up-Store, und das sind keine Straßen hier, sondern für alle und immer geöffnete Selbstbedienungsläden. Kostet nix, einfach zugreifen! Touristen können eigentlich mit einem fast leeren Koffer anreisen, dann den Spuren der öffentlichen Sperrmüllentsorgungen und Wohnungsauflösungen folgen und zwischendurch immer auf die Pappkartons in den Hauseingängen achten. „Zu verschenken!“, steht meistens drauf, und von Büchern über Elektrozahnbürsten bis Pre-owned-Jacken wie -Hosen ist da alles dabei. Profitipp: Handschuhe tragen, wegen Hundehaufen, die hier und da als böse Überraschung aufpoppen. Ist aber nie böse gemeint. Paul Linke

3. Vorsicht vor den Ticket-Kontrolleuren

Abgestempelt? Dann ist ja gut.
Abgestempelt? Dann ist ja gut.Francesca Arena für Berliner Zeitung am Wochenende

Oft sitzen die Gelbwesten bereits im Zug, wenn ihre Opfer ihn betreten: ahnungslose Touristen, gerade am BER gelandet, überfordert von Fahrplänen, Schienenersatzverkehr und dem Berliner Fahrscheinsystem. In Metropolen wie New York kann man mit ein- und demselben Ticket überall hinfahren, Berlin hat drei Zonen eingerichtet: A, B und C. Es gibt verschiedene Tickets mit verschiedenen Preisen. Hat man diese Hürde genommen, lauert gleich die nächste: Unbedingt abstempeln! Sonst ist das Ticket ungültig und die Kontrolleure in den gelben Westen (manchmal auch ohne) sagen ungerührt: „Step out, please!“ Diskutieren sinnlos.  Anja Reich

4. „Telespargel“ steht auf dem Index

Wir mögen Spargel, Austern und Gold. Aber bitte nicht verballhornen!
Wir mögen Spargel, Austern und Gold. Aber bitte nicht verballhornen!Francesca Arena für Berliner Zeitung am Wochenende

Egal was euch fröhliche Ausflugsschiffskapitäne auf Spree und Landwehrkanal entgegenschmettern: Kein Berliner sagt Telespargel, Langer Lulatsch, Schwangere Auster oder Goldelse. Es heißt Fernsehturm, Funkturm, Haus der Kulturen der Welt beziehungsweise Kongresshalle und Siegessäule. Lasst stets Skepsis walten, wenn etwas angeblich „im Volksmund liebevoll“ auch soundso genannt wird. Wird es nicht! Touristen können den Einheimischen darüber hinaus einen riesigen Gefallen tun, indem sie nicht versuchen zu berlinern. Wir Hauptstädter fahren nicht „ins Jrüne“, wir sagen sehr selten „knorke“ und „zischen“ auch keine „Molle“. Aber wer nett zu uns ist, mit dem trinken wir gern mal ein Bierchen. Vasprochen! Anne Vorbringer

5. Links laufen, rechts gehen auf der Rolltreppe

Auch auf Rolltreppen gibt es ungeschriebene Gesetze.
Auch auf Rolltreppen gibt es ungeschriebene Gesetze.Francesca Arena für Berliner Zeitung am Wochenende

Es mag sein, dass man in manchen Städten nicht auf der Rolltreppe laufen darf, weil man stürzen könnte. In Südkorea zum Beispiel gilt es als unhöflich, und in Videos auf Bildschirmen in der U-Bahn wird zu Geduld aufgerufen. Aber in Berlin gilt die alte Großstadtregel: rechts stehen, links laufen. Die New Yorkerin Fran Lebowitz hatte auf Netflix für ihre Heimatstadt mehrere Regeln aufgestellt. Der Titel der Serie „Pretend it’s a City“ hatte letztlich mit einem Erlebnis auf der Rolltreppe zu tun: Als Lebowitz einmal auf einer solchen nicht an Touristen vorbeilaufen konnte, zischte sie mit rollenden Augen: „Stellt euch einfach vor, dass das hier eine Großstadt ist!“ Auch in Berlin kann man das gar nicht oft genug sagen: „Newsflash: Other People Exist!“ Sören Kittel

6. Macht euch auf Dreck gefasst

Was eben so rumliegt: Berlin wie es müllt und lacht.
Was eben so rumliegt: Berlin wie es müllt und lacht.Francesca Arena für Berliner Zeitung am Wochenende

Steht ein Mann am Ausgang der U-Bahn am Kottbusser Tor und schaut sich erschüttert um. Er fragt: „Wo bin ich?“ Der Arme kommt aus der Schweiz und wollte eigentlich nach Charlottenburg – hat sich irgendwie kompliziert unterirdisch verfahren. Am Kottbusser Tor angekommen, kann er nicht glauben, noch immer in der deutschen Hauptstadt zu sein. Die Linie U8 hat ihn entgeistert entlassen, er erzählt von Bierlachen auf dem Boden, angefressenen und liegen gelassenen Pizzen, na, was da eben alles so rumliegt. Und nun soll er dahin zurück? In diesen Tunnel? Er lässt sich nicht zurückschicken. Er nimmt ein Taxi. Maritta Tkalec

7. Auf dem E-Scooter mit Tempo 30 auf dem Gehweg

Achtung, E-Scooter! Wer fürchtet sie nicht?
Achtung, E-Scooter! Wer fürchtet sie nicht?Francesca Arena für Berliner Zeitung am Wochenende

Als weltgewandter Berlin-Besucher oder integrierter Neuberliner fühlt sich erst, wer mindestens einmal auf einem E-Scooter über den Gehsteig gebrettert ist. Mit Tempo 30 im Slalom um Fußgänger herum, die bereitwillig zur Seite springen, weil sie inzwischen glauben, es gehöre zu ihrer Stadt, dass sich Menschen in den Straßen wie eine offene Hose benehmen. Kunstfertigen unter den Rollernden gelingt es, Passanten frontal anzusteuern und erst im letzten Moment den Konfrontationskurs zu verlassen. Mit ein wenig Glück kommen die Fahrer so auch in ein angeregtes Gespräch mit den Einheimischen. Übrigens haben einige Berlin-Reiseführer offensichtlich diese Regel bereits aufgenommen. Christian Schwager

8. Bitte keine Freundlichkeit erwarten

Nicht gemeckert ist genug gelobt. Ist doch klar, oder?
Nicht gemeckert ist genug gelobt. Ist doch klar, oder?Francesca Arena für Berliner Zeitung am Wochenende

Wer bei seinem Urlaub in Berlin einen liebevollen Empfang erwartet – ob von Servicemitarbeitern oder normalen Passanten auf der Straße –, sollte sich spätestens in der Ankunftshalle des BER von diesem Irrtum befreien. Niemand wird sich von euren Aussagen dazu, was ihr an Berlin so spannend und interessant findet, geschmeichelt fühlen; auch Komplimente im Restaurant werden ausdruckslos entgegengenommen. Die Berliner zögern nicht, euch zu sagen, wenn ihr etwas falsch gemacht habt. Verirrt ihr euch auf den Radweg, wird auf euer Fehlverhalten nicht mit einem einfachen Läuten der Fahrradklingel hingewiesen, wie anderswo üblich, sondern mit einem spitzen „Hallo!“ vom vorbeifahrenden Radler. Wir sind nicht unhöflich, dit is Berlin. Elizabeth Rushton

9. Es gibt keinen Bierflaschen-Zwang

Das Wegbier ist Teil des Berliner Lokalkolorits.
Das Wegbier ist Teil des Berliner Lokalkolorits.Francesca Arena für Berliner Zeitung am Wochenende

Berlin ist bekanntlich eine besonders freie Stadt, vielleicht sogar eine der freiesten. Das liegt wohl auch daran, dass die Deutschen zwar als ordnungsliebende Spießer gelten, dass aber das alte Ost- und das alte West-Berlin immer anders waren. Deshalb wird in Berlin auch gern gefeiert. Das Wegbier gehört für viele inzwischen zur Pflicht, ob morgens auf der Kastanienallee oder abends auf der Simon-Dach-Straße. Man kann gar nicht anders, denn überall gibt es Spätis. Kaum irgendwo auf der Welt ist so viel Bier so preiswert zu haben. Deshalb machen alle mit. Aber, liebe Touristen: Die Bierflasche beim Schaulaufen – das ist nicht Berlin. Das machen nur Touristen, also Gäste aus Sachsen, dem Saarland oder Schweden. Daher: Wer sich nicht sofort als Touri zu erkennen geben will, lässt das Bier beim Fußmarsch durch Berlin einfach weg. Jens Blankennagel

10. „Das ist Berlin“ – nicht

Eine Punkerin hat lustig in Form rasierte Haare; ein Rentner schlappt nur mit Morgenmantel bekleidet über den Rosenthaler Platz; eine ältere Dame führt ein Kaninchen an der Leine spazieren; ein betrunkener Minderjähriger liegt am Bahnhof Zoo in seinem Erbrochenen – alles so schön bunt hier! Von Touristinnen und Touristen werden solche Berliner Alltagszenen, die witzigen wie die weniger witzigen, gern mit einer kecken Feststellung quittiert: strahlende Augen, ein Kopfschütteln heiterer Verwunderung und ein verständnisvoll dahergequaktes „Das ist Berlin!“ Oder noch schlimmer: „Dit is Balin.“ Immer wieder dieser eine Satz, ob im aufgesetzten Dialekt oder auch nicht, der suggeriert, Berlin sei eine einzige ulkige Freakshow, die man längst verstanden und durchdrungen hat. Lasst es einfach, liebe Gäste, wir wissen schon selbst, was unserer Stadt entspricht. Und: Dass alle, die „das ist Berlin“ sagen, genau davon rein gar keine Ahnung haben. Manuel Almeida Vergara