Essay

Brutal Berlin: Wie mich der Alkohol in der Hauptstadt ruinierte

Unsere Autorin kam als Landei mit großen Erwartungen nach Berlin. Sie ließ nichts aus: Partys, Männer, Drogen. Vor allem der Alkohol machte ihr zu schaffen.

Die Autorin Eva Biringer
Die Autorin Eva BiringerFlorian Reimann

Eva Biringer ist freie Journalistin und Autorin. Sie schreibt regelmäßig für die Berliner Zeitung. Dieser Text ist ein Auszug aus Eva Biringers Sachbuch „Unabhängig: Vom Trinken und Loslassen“, HarperCollins, Hamburg 2022, 352 S., 18,- Euro.

„Du bist verrückt, mein Kind, du musst nach Berlin“, stand auf einer dieser Postkarten, die man in der Buchhandlung unseres Nachbarstädtchens kaufen konnte, gleich neben dem Grabbeltisch. Genau das war der Plan. Angefangen hatte es mit der von 2002 bis 2005 ausgestrahlten ARD-Serie Berlin, Berlin. Landei Lolle zieht darin von Malente – ein Kaff an der Mecklenburgischen Seenplatte, das meine Mutter mit mir besuchen musste, als wir mal in der Gegend waren, so wie andere zu Jim Morrisons Grab auf dem Père Lachaise pilgern – in eine Kreuzberger WG.

Geld, Alter, Sex und Penisgröße: Wie beim Onlinedating gelogen wird

Von Anne Vorbringer, Marcus Weingärtner

30.04.2022

Eine Comiczeichnerin, die einen ampelmännchenroten Pony und T-Shirts mit ♥-Aufdruck trägt und sich in ihren Cousin verliebt. Berlin ist in dieser Serie ein Ort, an dem jeden Tag Christopher Street Day sein könnte, regenbogenbunt und vielfältig, ruppig und tolerant.

Meine drei Schulfreundinnen und ich waren absolute Fangirls. In der achten Klasse beschlossen wir folglich, nach dem Abitur in die Hauptstadt zu ziehen. Wir malten einen Lageplan unserer zukünftigen WG, mit Himmelbetten und Rosenschaukeln, und schworen uns, wenn schon nicht Comiczeichnerin, dann doch Schauspielerin zu werden. Zu meinem fünfzehnten Geburtstag schenkte mein Vater meiner Schwester und mir einen Berlintrip, von dem mir vor allem unsere nächtlichen Irrwege durch Königs Wusterhausen in Erinnerung geblieben sind, wo sich unser dezentrales Hotel befand.

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Florian Reimann
Zur Autorin
Eva Biringer, geboren 1989 in Albstadt-Ebingen, hat Kunstgeschichte und Theaterwissenschaft in Berlin und Wien studiert. Angefangen zu schreiben hat sie als Theaterkritikerin für nachtkritik.de und Die Welt. Sie war Redakteurin bei Zeit Online, danach freie Autorin. Heute schreibt sie unter anderem für Die Welt am Sonntag, Der Standard, Zeit Online, Die Welt und Berliner Zeitung über Stil- und Kulturthemen. Sie lebt in Wien und Berlin.

Nicht zu vergessen das am Potsdamer Platz gelegene Haus der 100 Biere. Genug jedenfalls, um meine Entscheidung zu besiegeln. In Berlin, so viel stand schon damals fest, wäre ich endlich unabhängig. Kurz nach meinem achtzehnten Geburtstag ließ ich mir im Wohnzimmer des Freundes eines Freundes einen Satz auf den Oberarm tätowieren, den ich auf der Berliner East Side Gallery gelesen hatte: „Wunderbare Träume halten meinen Sinn umfangen.“

Ein bisschen Grün am Weinbergspark

Von meinen vielen Berufswünschen (Gerichtsmedizinerin, Modedesignerin, irgendwas mit Grafik) ließ ich ab, als ich merkte, wie sehr mir der theoretische Teil in meinem Kunstleistungskurs gefiel. Ich bewarb mich in mehreren Städten um ein Kunstgeschichtsstudium und erhielt für alle eine Zusage, für Berlin allerdings nur für den Fall, dass ich den Eignungstest meines Nebenfachs Französische Philologie bestehen würde.

So saß ich also im Sommer 2008 fast acht Stunden lang allein im Zug Richtung Norden. Ziel war der Rosenthaler Platz mit seiner Mischung aus Detox-Bowl-Hipness und sparsam dosierter Abgeranztheit. Vor der Tür des Circus Hostels ratterten die Trams vorbei, gleich gegenüber war das damals schon legendäre St. Oberholz, Geburtsstätte der digitalen Boheme, wo Menschen fünf Stunden vor einem einzigen Flat White sitzend in ihre MacBooks hämmerten und sich das für den Betreiber offenbar trotzdem rentierte.

An der anderen Ecke befand sich ein Späti, direkt daneben noch einer und vier weitere in einem Radius von hundert Metern. Kippen, Zahnpasta und Sternburg-Bier shoppen rund um die Uhr – für mich Landpomeranze der helle Wahnsinn. Ein bisschen Grün war auch dabei – in Form des Weinbergsparks, der eine Kehrwoche gut hätte vertragen können oder einen ganzen Kehrmonat.

Ja, ich würde nach Berlin ziehen

Am übernächsten Morgen erreichte mich im Frühstücksraum die Nachricht, den Aufnahmetest bestanden zu haben. Das war der mit Abstand beste Moment des Jahres. Ich würde nach Berlin ziehen, das irre gute Leben würde jetzt beginnen. Mit dem Berlin Calling-Soundtrack auf dem iPod – der Film drückte das Hauptstadtlebensgefühl damals aus wie kein anderer – schlenderte ich durch den Weinbergspark, zwischen Glasscherben hindurch, die funkelten wie Juwelen, und war glücklich.

Jetzt brauchte ich nur noch eine Wohnung. Meine WG-Besichtigungen waren nicht besonders ergiebig, wohl aber mein ans Schwarze Brett gepinnter Zettel. Plötzlich stand ein Typ namens Roland neben mir und bot mir ein Zimmer in seiner WG am Kottbusser Damm an. Er wirkte nett, und ich brauchte dringend eine Bleibe. So kam ich zu einem Zimmer über Berlins ältestem Kino, zu dessen Vorstellungen wir Hausbewohner und Hausbewohnerinnen immer freien Eintritt hatten. Die dazugehörige Wohnung war riesig und denkbar weit von Kehrwoche entfernt.

Alles war crazy in Berlin

Gleich an meinem zweiten Abend nahm Roland, der als Bartender in einem besonders bei Feiertouristen beliebten Club arbeitete, mich auf eine Bootsparty mit. Auf dem Weg dorthin informierte er mich, dass die dort ausgeschenkte Bowle möglicherweise MDMA enthielte, und ich weiß noch genau, wie ich ihn fragend ansah: „Was ist MDMA?“

Alles war so CRAZY. Ich ließ die Finger davon, bediente mich aber umso freimütiger an den kostenlosen Drinks. Die Nacht endete in jenem Club, in dem Roland arbeitete. Ich schlief besoffen auf einem der Sofas ein, in der folgenden Zeit sollte das öfter mal vorkommen. Im Morgengrauen fuhren wir mit dem Taxi zurück, übermüdet und euphorisiert, und ich spürte die Stadt auf meiner Haut flimmern.

Schlechte Gefühle, die sich gut wegtrinken lassen

„Die ständige, bodenlose Trunkenheit in Berlin“, so erinnert sich der Protagonist in Christian Krachts Roman „Eurotrash“ an seine Zeit in der Hauptstadt. Damit ist er in bester Gesellschaft. Nirgendwo in Deutschland war der Anteil männlicher Risikotrinker 2017 mit 22 Prozent höher als in Berlin (gleichauf mit Thüringen und Sachsen), bei den Frauen lag Berlin nach Hamburg mit 16 Prozent an zweiter Stelle.

Das bedeutet: Eine von sechs gelegentlich trinkenden Berlinerinnen hat damit ein Problem. An der Nordluft kann es nicht liegen, schließlich weist ausgerechnet Brandenburg mit neun Prozent den niedrigsten Anteil an Risikotrinkerinnen auf. Warum wird in der großen Stadt so viel mehr gebechert als auf dem platten Land? Ein Faktor ist sicherlich die mangelnde soziale Kontrolle.

Im Dorf kennt jeder jede. Getrunken wird dort eher in Gesellschaft, ein heimliches Problem bleibt nicht lange unentdeckt. In einer Großstadt hingegen sind sich kümmernde Nachbarinnen eher die Ausnahme. Und wer hat schon einen Stammsupermarkt, in dem immer derselbe Kassierer misstrauisch würde beim Anblick von Vorratsschnapseinkäufen?

Ein anderer Faktor ist der Einfluss von Städten auf die menschliche Psyche. Um 40 Prozent höher ist das Risiko, dort an einer Depression zu erkranken, als auf dem Land, bei Angststörungen sind es 20 Prozent. Die Gründe dafür sind verschieden: erhöhter Lärmpegel, fehlende Nähe zur Natur, das Gefühl von Anonymität und sozialer Isolation – einsam sein unter vielen. Allesamt Gefühle, die sich vermeintlich gut wegtrinken lassen.

Eva Biringer: „Unabhängig: Vom Trinken und Loslassen“
Eva Biringer: „Unabhängig: Vom Trinken und Loslassen“HarperCollins

Manchmal sahen wir uns auf Matratzen liegend Dirty Dancing an

Gelegenheit dazu hatte ich reichlich. Allzu fordernd war die Uni nicht, allzu prägend auch nicht, mal abgesehen davon, dass ich – cum tempore – bis heute immer und überall fünfzehn Minuten zu spät komme. Große Teile meines ersten Semesters verbrachte ich entweder verkatert in Seminarräumen oder auf Studenten-Special-Partys in Clubs.

Für jeden Tag der Woche gab es den richtigen. Dienstags eine ramponierte Villa in der Landsberger Allee, mittwochs Rolands Arbeitsplatz, wo ich für keinen einzigen Sambuca-Shot jemals bezahlen musste, donnerstags ein abstellkammergroßes Loch unter dem S-Bahnhof Jannowitzbrücke. Und an ein paar Sonntagen schafften wir es sogar, an der unmenschlichen Türsteherin der Bar 25 vorbeizukommen.

Blieb ich mal zu Hause, waren meist Leute zu Besuch, Rolands Doppelkopfrunde oder die Leute, die ich nach und nach an Tresen und auf Tanzflächen kennenlernte. Getrunken wurde immer, meistens Bier und billiger Wein. Manchmal sahen wir uns auf Matratzen liegend Dirty Dancing an.

Der Alkohol hatte meine Persönlichkeit im wahrsten Sinn verwässert

In diesen ersten Monaten holte ich nach, was mir achtzehn Jahre Landleben scheinbar verwehrt hatten, auch was Männer betraf. Oft hatte ich deren Namen schon vergessen, bevor wir aus dem Club raus waren. Als sehr ergiebig stellte sich Rolands Freundeskreis heraus, Männer, die zehn, teilweise fünfzehn Jahre älter waren, mich in Berliner-Weiße-Bars einluden und dann noch schnell eine Rolle Kneipenklopapier klauen mussten, weil ihres ausgegangen war.

Manche dieser Begegnungen waren lustig, andere inspirierend, viele total unnötig, aber das störte mich nicht. In einige dieser Männer verliebte ich mich auf gewohnt wahllose Art, heulte mir zu „(I’ve Had) The Time of My Life“ die Augen aus dem Kopf und steckte dann dem süßen Waffelverkäufer meine Nummer zu.

Je länger ich in Berlin lebte, desto verwirrender wurde die ganze Sache. Wer war ich, und wo gehörte ich hin? Zu den Acne-Boots tragenden Galeriemitarbeiterinnen? In irgendein theaterwissenschaftliches Promotionscluster? Oder doch zu den Technoveteranen, die jedes Wochenende in den Krieg zogen, um sich die folgende halbe Woche über die Wunden zu lecken?

War ich die eloquente Zwei-Gläser-Wein-Stiljournalistin, die eskalationsentschlossene Shottrinkerin, die melodramatische Rotweintrinkerin, das glamouröse Champagnergirl? Oder doch einfach nur die nüchterne, trübsinnige Eva? Hatte ich zu viel oder zu wenig Gefühl? Der Alkohol hatte meine Persönlichkeit im wahrsten Sinn verwässert. Mein Nachttisch war die umgedrehte Weinkiste meines Südtiroler Lieblingsweinguts.

Meine Erinnerung endet nachmittags im Festzelt

Ab und an hatte ich Blackouts. Manche dieser Abende begannen mit einem mir selbst aufgenötigten Glas Wein – laut meinem Tagebuch glaubte ich zuvor festgestellt zu haben, „dass ich keine Lust auf Alkohol hatte“ – und endeten in der fünften oder sechsten Bar respektive meinem Bett, in das mich mir nahestehende Menschen gebracht hatten.

Am schlimmsten war die Sache mit dem Oktoberfest: mein leerer Magen und ich, drei Maß Bier. Meine Erinnerung endet nachmittags im Festzelt auf einer Bierbank stehend und beginnt am nächsten Morgen auf dem Beifahrersitz hängend, kurz vor Berlin. Am Steuer saß ein guter Freund. Bei einem Erlebnis wie diesem war ich immer versucht zu sagen, „da hat mir wohl jemand was ins Glas getan“, tatsächlich war es aber immer nur ich selbst, und zwar Alkohol.

Buchpremiere: Donnerstag, 12. Mai 2022, 20:00 Literatur LIVE im Pfefferberg Theater, Eva Biringer: „Unabhängig. Vom Trinken und Loslassen“

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