Es erschien lange ungewiss, ob Rammstein überhaupt auftreten darf. Im Vorfeld war über eine mögliche Absage der Konzerte am 15., 16. und 18. Juli in Berlin diskutiert worden. Bis zum vergangenen Sonnabend hatten rund 75.000 Menschen eine entsprechende Petition unterzeichnet, denn mehrere Frauen werfen Till Lindemann sexuelle Übergriffe vor. Sie berichten, dass sie für After-Show-Partys gecastet und dem Sänger der weltberühmten Band gezielt zugeführt worden seien. Einige vermuten, dass sie mit K.o.-Tropfen betäubt wurden. Am Montag gab neuerliche Vorwürfe gegen Teile der Band, zwei Frauen berichteten von ähnlichen Vorfällen, von After-Show-Partys, Erinnerungslücken und nicht einvernehmlichem Sex.
Mittlerweile ermittelt die Berliner Staatsanwaltschaft wegen der ursprünglichen Vorwürfe gegen Till Lindemann. Der widerspricht den Anschuldigungen, er hat Anwälte eingeschaltet, die Vorwürfe seien ausnahmslos unwahr, sagen sie.
Auswirkungen auf die Konzertreihe im Olympiastadion hatte all das bislang nicht. Beide Abende waren ein voller Erfolg für Rammstein, die Band um den düster geschminkten Sänger lieferte, was die fast 60.000 Fans erwarteten: eine bombastische Show. Laut, martialisch, voll gigantischer Pyrotechnik, die den Himmel über dem Stadion erhellte. Das Publikum skandierte begeistert den Bandnamen. Wer Tickets für die Show hatte, wurde sicherlich nicht enttäuscht.
Draußen demonstrierten ein paar Hundert gegen den Auftritt, das feministische Bündnis „Kein Rammstein in Berlin“! hatte zu einem Protestzug aufgerufen. Drinnen demonstrierte die Band Selbstbewusstsein. Ließ sich von den Fans feiern, denen all die Vorwürfe gegen Lindemann offensichtlich egal schienen, die, im Gegenteil, auf T-Shirts und mit Sprechchören ihre Solidarität bekundeten. Man hatte das Gefühl, zwei komplett verschiedene Gesellschaften prallen aufeinander. Oder prallten eben nicht, sondern agierten aneinander vorbei: draußen die wenigen Demonstranten, mit Pappschildern, auf denen Slogans standen wie „No means No“, drinnen die Fans mit T-Shirts, auf denen Sprüche standen wie „Evil German“ oder „Team Lindemann“.
Woran liegt es, dass in diesem Fall der Protest, die massiven Vorwürfe, offensichtlich keinerlei Reaktion bei den Rammstein-Anhängern hervorrufen? Die Fans nicht nur kalt lassen, sondern, im Gegenteil, in die Opposition treiben. Kann man nur halb gecancelt werden oder sind die Menschen vielleicht einfach nur genervt von dieser Art der Vorverurteilung? Denn bewiesen ist bislang nichts.
Es ist aber wohl auch nicht so, dass der durchschnittliche Rammstein-Fan sich als besonders woke empfindet, eine Haltung, die sich nur schwerlich mit dem männlich-martialischen Image einer Band wie Rammstein in Verbindung bringen lässt. Wer sich in den eingängigen Rammstein-Foren umsieht, den Plattformen, auf denen die Fans sich austauschen über Konzerte, Merchandising, Texte und natürlich auch die Vorwürfe und Gerüchte über die Band, der bekommt schnell das Gefühl, dass die Rammstein-Fans mit einigem Trotz auf die Vorwürfe reagieren, genervt davon sind und wenig interessiert daran, sich tiefergehend damit auseinanderzusetzen. Schließlich ist es doch genau diese Art von Provokation, mit der Rammstein berühmt geworden ist, die den durchschnittlichen Fan ein Stück weit stellvertretend vom Druck der Political Correctness entlastet, der die Band zum Stellvertreter dafür macht, was man selbst nicht laut sagen darf.
Vielleicht ist die Aufregung um die Missbrauchsvorwürfe auch zu lange her, als dass sie noch einen großen Einfluss auf das Geschehen haben könnte. Durchs Netz wurden seitdem schon ein paar weitere Säue getrieben und in vielen der Foren wurde zudem unterstellt, dass die Geschehnisse ohnehin maßlos übertrieben seien und auch nur ein Sturm im Wasserglas einer elitären Medienblase. Interessant wird es erst dann, wenn sich die Vorwürfe als wahr herausstellen – oder als belegt unwahr.
