Über Berlin wird viel gelacht. Die Häme kommt gerne aus dem Nicht-Berliner-Ausland, vor allem aus Bayern, aber eigentlich von überallher. Auch wir Berlinerinnen und Berliner könnten jederzeit – selbst mitten aus dem Schlaf gerissen – herunterleiern, was in unserer Stadt alles nicht funktioniert: Erst der Flughafen, dann die Wahl, Termine beim Bürgeramt, Fahrradstraßen, die Digitalisierung an den Schulen, die Bearbeitung von Bauanträgen und so weiter und sofort.
Berlin hat sich inzwischen den Ruf der am schlechtesten verwalteten westlichen Metropole verdient. Mich wundert das nicht. Das eigentliche Wunder ist: Trotz aller Mängel zieht es noch immer talentierte Menschen in die Stadt, die sich nichts Schöneres vorstellen können, als hier zu leben und zu arbeiten. Vor allem Gastronomen, junge Köchinnen und Köche, Küchenchefinnen und Quereinsteiger aus aller Welt haben in den vergangenen Jahren hier ihr neues Wirkungsfeld gefunden. Anders ist die kulinarische Vielfalt der Stadt nicht zu erklären.
Vor kurzem haben wir wieder jemanden dazugewonnen. Yann Mastantuono heißt er. Ich muss an dieser Stelle einmal ausholen, was dieser Mann alles für Berlin hat liegenlassen: Mastantuono ist in Marseille geboren, mit dem wunderbaren Klima und der Küche Südfrankreichs aufgewachsen, und hat dann in keinem Geringeren als dem Drei-Sterne-Koch Alain Ducasse seinen Mentor und Förderer gefunden.
Ducasse, ohne Zweifel der Gott der Gourmetszene, hatte ihm zuletzt die Küchenchefposten seiner beiden Pariser Restaurants Aux Lyonnais und Adjugé übertragen. Yann Mastantuono leitete diese beiden Spitzenrestaurants einige Jahre erfolgreich, bis er kündigte. Keine Ahnung, wie genau man Gott persönlich seine Kündigung unterbreitet, er jedenfalls hat es getan. Für Berlin – und weil er sich hier seinen Traum vom eigenen Restaurant erfüllen wollte.

Seit April ist der Traum Wirklichkeit: Mastan hat er ihn genannt, die Kurzform seines Nachnamens Mastantuono. Es ist ein hübsches Restaurant im klassischen Bistrostil geworden, wie es auf dem Montmartre zu finden wäre, und doch liegt es an der Gneisenaustraße. Ein L-förmiger Raum in hellen Beige- und Naturtönen, vorne eine Weinbar mit umlaufender Theke, an der die Gäste auch essen können. Früher war der Laden ein Farm-to-table-Weinbistro namens Hinterland, das eine gute Küche machte, leider aber immer etwas düster wirkte. Nun sorgt viel warmes Licht für Wohligkeit. Schön sind auch die dezent platzierten Bilder von Mastantuonos Lebenspartnerin, der Künstlerin Dorothée Louise Recker, die die Innenräume ausgestaltet hat.
Zur vollen Wahrheit gehört nämlich auch: Bei der Entscheidung für Berlin spielte nicht nur die Stadt eine Rolle, sondern auch die Liebe und ein Kind. Die Lebensgefährtin des Küchenchefs ist Deutsch-Französin. Kennengelernt haben sich beide in Paris, seit zwei Jahren haben sie eine Tochter. Und gerade mit Kind erschien dem Paar Berlin lebenswerter als Paris, weil es hier kostenlose Kitaplätze gibt und die Chancen auf einen zwar nicht bestens, wohl aber größer sind als in Paris.
Berlin hat eine zeitgenössische französische Bistroküche hinzugewonnen
Manche Dinge hier funktionieren im Vergleich also gar nicht so schlecht; Glück für uns. So haben wir eine zeitgenössische französische Bistroküche in Berlin dazugewonnen, die Yann Mastantuono um seine kulinarischen Erinnerungen, Lieblingsspeisen und -produkte aus Südfrankreich bereichert. Wer an Terrinen, Tatar, provenzalisch gewürztes Gemüse und herzhafte Desserts wie Clafoutis und Baba au rhum denkt, liegt genau richtig.
Meisterschaft zeigt sich heutzutage am besten an den einfachen Gerichten, denke ich. Ich freue mich, dass das Mastan nicht wie anfangs vermutet nach einem Stern strebt. Im Gegenteil: Statt Fine Dining bekam ich beim ersten Besuch, einem Presseessen, die volle Wucht der südfranzösischen Landhausküche zu schmecken. Es gab Fleisch und nochmal Fleisch.
Auf herzhaften Schinken folgt grobstrukturierte Geflügelleberterrine
Auf einen herzhaften Schinken folgte eine grobstrukturierte Geflügelleberterrine. Danach ein fast würfelgroß geschnittenes Kalbslebertatar mit Surf-and-Turf-Touch. Und darauf zur Abwechslung eine Knurrhahnsuppe, deren hervorragende kräftige Brühe so trüb-braun und fischig schien wie der Bodensatz am Meer. Nichts für Vegetarier also – bei einigen Kolleginnen und Kollegen kam das nicht so gut an.
Nun, gute zwei Monate später bei meinem zweiten Besuch, scheint Yann Mastantuono die Essgewohnheiten hier besser verstanden zu haben, und dass man den Berlinerinnen und Berlinern bei aller Liebe zu Frankreich nicht allzu viel Tier zumuten kann. Jedem eine Anlaufzeit zu geben, merke ich mal wieder, ist wichtig. Diesmal schmecke ich eine neue Leichtigkeit, ohne die südfranzösischen Vorlieben zu verleugnen.

Ganz wunderbar ist etwa die Makrele als Vorspeise: Nicht geräuchert, sondern im Tataki-Stil außen abgeflämmt, hat ihr rohes Inneres ein zartes Aroma und wird lediglich à la salade niçoise mit knackiger Gurke, Rucola, etwas gehobeltem Stangensellerie, kräftigen roten Pimientos sowie Oliven kombiniert. Zurückhaltend und perfekt angepasst ist das Dressing aus bestem Olivenöl, Zitrone, Meersalz und einem wunderbar pfeffrigen Paprikastaub.
Natürlich gibt es auf der Karte immer noch genug Herzhaftes, etwa das Lammbries. Offiziell mag es zwar zu den Innereien zählen, mich erinnert es von der weichen Textur eher an ausgelöstes Huhn, sein Lammgeschmack fällt nur dezent aus. Yann Mastantuono serviert diese zarte Delikatesse daher im umso kräftigeren Fleischjus mit frisch gepulten Erbsen und grünem Spargel. Für den mediterranen Touch sorgen gegrillte und enthäutete Spitzpaprika-Filets.
Direkt an die französische Mittelmeerküste beamt mich auch sein Tintenfisch, dessen weißes Fleisch normalerweise eher neutral schmeckt. Hier bekommt es durch die Grillaromen, die Salze eines luftgetrockneten, dann knusprig ausgebackenen Coppa sowie ein herrliches Basilikumöl geschmackliche Tiefe. Gekonnt ist auch der Temperaturkontrast zu einem geeisten Beet aus samtig-weißem Bohnenpüree.
All denen, die gerne über diese Stadt lachen, rufe ich daher zu: Seht her, Restaurants können wir! 1999 nannte der große Wolfram Siebeck die Berliner Gastronomen noch „Gurkentruppe“. Und bis vor einigen Jahren warb die Stadt mit dem Aushängeschild Currywurst. Sieh einer an, wo wir heute stehen. Wenn die Verwaltung einen ebenso steilen Aufstieg nimmt wie die kulinarische Entwicklung – dann leben wir hier bald im Paradies.





