Als eines der bekanntesten Märchen der Welt wurde „Hänsel und Gretel“ bereits mehr als 20 Mal verfilmt. Und selbst 250 Jahre nach ihrer Verfassung kann die Geschichte offenbar noch zum Nachdenken anregen.
Das zeigt unser Interview, auch wenn die Geschichte um das Geschwisterpaar und die hungrige Hexe im Wald wohl mehr eine Parabel für die Kleinen ist, vom Loslassen, Verlieren, von Vertrauen und Verlust.
Die Flying Steps, die berühmte Breakdance-Gruppe aus Berlin, haben sich des Klassikers angenommen und ihn in ihre ganz eigene Tanzsprache übersetzt: Ihre neue Show „Flying Hänsel und Gretel – die Macht der Influencer“ feiert am 3. Oktober im Admiralspalast Berlin-Premiere, bevor sie ab Sommer 2024 in ganz Deutschland zu sehen sein wird. Zusammengearbeitet haben die Akrobaten hierfür erneut mit internationalen Stars aus Oper und Pop, sowie aus HipHop und Breakdance.
Nur noch Hunger nach Aufmerksamkeit
Auch das Remake von „Hänsel und Gretel“ beschäftigt sich – wie das Original – mit den Versuchungen, denen junge Menschen häufig ausgesetzt sind. Im Gegensatz zu damals verspüren Kinder heute allerdings eher einen Hunger nach Aufmerksamkeit und nicht nach Süßem, meint der Regisseur und Flying-Steps-Gründer Vartan Bassil vor dem Interview: „Es liegt nahe, die Verführung des Lebkuchenhauses durch die Macht von Social Media zu ersetzen“.
Mit Bassil sowie der Choreografin und „Gretel“-Darstellerin Alisha Kobyliak sprechen wir über den Umgang mit Social Media in der Familie, über Smartphone-Abhängigkeit im eigenen Team und ganz persönliche Enttäuschungen.
Herr Bassil, in Ihrem Stück wird aus den sozialen Medien ein Hexenhaus. Wieso haben Sie sich Social Media als Verkörperung des Bösen ausgesucht?
Vartan Bassil: In meinen Augen stellt Social Media heutzutage die größte Herausforderung dar: dieses Hungern nach Aufmerksamkeit, das Verfolgen falscher Ideale und vor allem nie von alledem satt zu werden. Das ist nicht alles zwangsläufig böse; allerdings gestaltet es sich schwierig, der Anziehung von Social Media zu widerstehen. Davon sind auch wir nicht ausgenommen: Einerseits agieren wir als Influencer, andererseits sind auch wir Nutzer der sozialen Medien. Dabei sind wir uns bewusst, dass wir den Menschen immer wieder ihre kostbare Zeit stehlen und sie in ihrer Content-Welt gefangen halten.
„Menschen in ihrer Content-Welt gefangen halten“ – da passt es, dass Ihre böse Hexe im Stück eine Influencerin ist.
Bassil: Wobei Influencer natürlich nicht unbedingt böse Hexen sein müssen. Im Grunde genommen sind wir alle auf die eine oder andere Weise Influencer. Denn sobald wir Dinge ins Netz stellen, möchten wir damit Aufmerksamkeit generieren, Leute für uns gewinnen und ihnen zeigen, was wir gerade erleben. Aber es gibt auch Menschen, die uns keine guten Werte vermitteln, die unsere Gesellschaft nicht weiterbringen und uns unsere Zeit stehlen. Aber deswegen sind Influencer nicht grundsätzlich böse – es gibt quasi auch gute Hexen.

Worin sehen Sie persönlich die Verantwortung von Influencern?
Bassil: Manchmal habe ich das Gefühl, einige Menschen wissen gar nicht, dass ihr eigens produzierter Content für immer im Netz bleibt. Wir sollten als Influencer mehr darüber nachdenken, was wir teilen, und uns unserer Vorbildfunktion besser bewusst werden. Heute lassen sich vor allem junge Leute im Internet zu schnell verführen, mit falschen Werten füttern oder für etwas begeistern, was eigentlich nicht gut für sie ist. Als kleines Beispiel dient das Thema Freizügigkeit: Ich denke, gerade heranwachsende Menschen wissen häufig gar nicht, wie ihr zukünftiges Leben davon beeinflusst werden kann. Im Netz kann man sich durchaus verlieren, und genau deswegen gehört das Internet für mich zu den größten Märchen unserer Zeit.
Machen sich diese Herausforderungen auch in Ihrem eigenen Alltag bemerkbar?
Bassil: Ich denke, gerade für Eltern ist Social Media eine große Herausforderung – auch ich selbst habe Kinder. Dabei sind für mich als Vater iPad und Smartphone Fluch und Segen zugleich: Drücke ich den Kindern nämlich eines der Geräte zur zeitlichen Überbrückung bis zum Essen in die Hand, wird plötzlich nicht mehr geschrien. Es wird ruhig. Einerseits ist das für mich entlastend, andererseits aber auch gruselig.
Wie machen Sie diesen Konflikt in „Flying Hänsel und Gretel“ sichtbar?
Bassil: Wir möchten aufzeigen, in welcher herausfordernden Zeit wir leben, und haben auf der Grundlage von Engelbert Humperdincks Oper und dem Märchen der Gebrüder Grimm Altes durch Neues ersetzt – Probleme und Möglichkeiten. Das wird nicht zuletzt in den Tanzeinlagen ersichtlich.

Frau Kobyliak, normalerweise nehmen Sie an internationalen Wettbewerben teil oder tanzen in TV-Shows. Inwieweit unterscheidet sich das von „Flying Hänsel und Gretel“?
Alisha Kobyliak: Das ist ein großer Unterschied. Natürlich trete ich auch hier als Tänzerin auf; bin aber in erster Linie auch Schauspielerin. Wir müssen kontinuierlich miteinander kommunizieren. Mit einer Länge von knapp einer Stunde und 20 Minuten ist „Flying Hänsel und Gretel“ definitiv eine Herausforderung für mich. Das merke ich schon nach nur einem Monat der Übung.
Sind Sie enttäuscht, nicht selber mittanzen zu können, Herr Bassil?
Bassil: Total! Allerdings fühle ich mich in meiner Roller als Director auch durchaus wohl. Mittlerweile ist das Leitmotto der Flying Steps „creating spots for dancers“ – folgerichtig müssen wir also anderen Talenten die Bühne überlassen.

Nach den ersten Erfolgen entstand im Jahr 2010, unter der künstlerischen Leitung von Christoph Hagel, die Tanzperformance „Flying Bach“, wo Breakdance und Contemporary Dance zum ersten Mal auf klassische Musik von Johann Sebastian Bach trafen.
Neben Ihrer Rolle als Gretel sind Sie, Frau Kobyliak, auch zuständig für die Choreografie des Stücks. Worauf lag hierbei Ihr Fokus?
Kobyliak: Für mich war das Entscheidende stets der Dialog zwischen Hänsel und Gretel. Die Aufgabe lag also darin, die Botschaften der jeweiligen Charaktere auch ohne Gesang funktionieren zu lassen – im Prinzip sollte etwas gesagt werden, ohne dabei zu sprechen. Darauf habe ich die Choreografie dann abgestimmt und versucht, die Tanzeinlagen von „Hänsel und Gretel“ aufeinander aufzubauen.

Herr Bassil, gibt es auch in Ihrem Team Leute, die mit einer Social-Media-Abhängigkeit zu kämpfen haben?
Bassil: Na klar! Das sind die größten Abhängigen überhaupt. In jeder freien Minute siehst du sie wieder vor ihrem Handy. Mittlerweile ist es sogar so weit, dass ich die Smartphones einsammele und sie für knapp eine Stunde in einem Schuhkarton aufbewahre.
War das der Ursprung der Idee, Social Media zum Hauptthema des Stücks zu machen?
Bassil: Nein, der tatsächliche Ursprung liegt im Grunde bei den Tänzerinnen und Tänzern selbst, die sich – wie ich festgestellt habe – immer häufiger von ihren eigentlichen Skills zu entfernen scheinen. Lieber nähern sie sich Dingen an, die mehr Aufmerksamkeit generieren, also lustige, unterhaltsame Sachen. Irgendwann stellte sich mir dann die Frage, wie es sein kann, dass wirklich großartige Tänzer Abstand von ihrem Talent nehmen und sich lieber auf einen Anstieg der Follower konzentrieren wollen – ich kann das nur bedingt verstehen. Am besten sind die, wo man die Beeinflussung sofort bemerkt: Erst sind sie Foodblogger, dann Fashionblogger und irgendwann, wenn rein gar nichts mehr einfällt, sind sie Lifestyleblogger. Damit verliert man aus dem Auge, was man am besten kann.


