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Steilvorlage für die Corona-Aufarbeitung: Richter in Osnabrück würdigen RKI-Protokolle

Die Versuche, die RKI-Protokolle kleinzureden, sind offiziell gescheitert, meint unser Autor. Jetzt ist das Bundesverfassungsgericht am Zug. Das gibt Anlass zur Hoffnung.

Ein Richter des  Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe setzt seine Kopfbedeckung auf.
Ein Richter des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe setzt seine Kopfbedeckung auf.Uli Deck/dpa

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Das Verwaltungsgericht Osnabrück sorgte diese Woche für Schlagzeilen. Unter Bezugnahme auf die RKI-Protokolle befand das Gericht, die während der Pandemie eingeführte einrichtungsbezogene Impfpflicht sei verfassungswidrig.

Das weckt Hoffnung. Hoffnung, weil sich Richter jetzt trauen, das Vorgehen in der Corona-Zeit ehrlich und ungeschönt anzusprechen. Da ist eine Kammer, die mit drei Berufsrichtern, also ausgezeichneten Juristen, die einrichtungsbezogene Impfpflicht für verfassungswidrig hält. Das alleine hätte noch vor einem Jahr für einen Skandal gesorgt und die Richter in die Querdenker-Ecke gestellt. Wenn sich diese Richter überhaupt getraut hätten, so einen Beschluss zu fassen. Jetzt aber erreichen die RKI-Protokolle endlich auch die Welt der Richter und anderer Juristen. Die ersten Berührungsängste sollten abgebaut sein.

Hoffnung macht auch, dass sich das Bundesverfassungsgericht jetzt wieder mit diesem Thema beschäftigen muss. Das ist eine große Chance. Wenn es einigermaßen klug ist, wird sich das Gericht endlich von jeglichem Einfluss der Politik bzw. dem Anschein eines solchen befreien, Vertrauen der Bevölkerung zurückgewinnen und gelebte Unabhängigkeit sowie Professionalität demonstrieren.

Das Verwaltungsgericht in Osnabrück
Das Verwaltungsgericht in OsnabrückRalph Peters/imago

Nicht zuletzt – und das ist als besonderer Erfolg zu werten – werden die RKI-Protokolle endlich aus der Schmuddelecke geholt und finden die Würdigung, die sie verdienen. Sie sind ein Zeugnis des Versagens einer Institution. Sie sind Zeugnis eines Versagens hoher Beamter und Amtsträger gegenüber der Politik. Die Protokolle sind ein Beleg, wie übergriffig sich Politiker in die Angelegenheit der Bundesseuchenschutzbehörde einmischten und sie zum Büttel ihrer Belange machte. Die Versuche vieler Politiker und einiger Medien, den Skandal um die Bedeutung der RKI-Protokolle kleinzureden, sind damit offiziell gescheitert. Das Bundesverfassungsgericht kann jetzt zum Schauplatz der Aufarbeitung werden.

Zu dieser Aufarbeitung gehört auch eine unrühmliche Vorgeschichte. Denn anders als die Entscheidung aus Osnabrück vielleicht suggeriert, ist die Möglichkeit, das Bundesverfassungsgericht anzurufen, natürlich nichts Außergewöhnliches. Jedermann kann sich mit einer Verfassungsbeschwerde an das höchste Gericht wenden und sich z. B. auch gegen Rechtsnormen wehren. So statuiert es das Grundgesetz.

Das haben einige Personen nach Einführung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht getan, und so musste das Bundesverfassungsgericht sich mit der Verfassungsmäßigkeit des § 20a Infektionsschutzgesetz (IfSG), der von Dezember 2021 bis Ende 2022 galt, beschäftigen. Mit Beschluss vom 27.4.2022 kam das Gericht zu dem Ergebnis, dass das angegriffene Gesetz verfassungsgemäß sei.

Eine Entscheidung, die weitreichende Auswirkungen hatte, Leid und Unverständnis verursachte und in vielen gerichtlichen Entscheidungen als Begründung herangezogen wurde. Was das Bundesverfassungsgericht entscheidet, hat Gewicht und scheint in Stein gemeißelt zu sein.

Was in der öffentlichen Wahrnehmung weitgehend unbekannt sein dürfte: Richter haben eine eigene grundgesetzlich geregelte Möglichkeit, Gesetze dem Bundesverfassungsgericht vorzulegen. Dies wird Richtervorlage genannt und ist im Grundgesetz in Art. 100 geregelt.

Eine Richtervorlage erfolgt, wenn ein Gericht über eine Rechtsstreitigkeit entscheiden muss und dabei zu dem Ergebnis kommt, dass das Gesetz, welches entscheidend für das Urteil ist, verfassungswidrig ist. In diesem Fall legt das Gericht dieses Gesetz dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vor. Selbst dürfen die Fachgerichte nicht über die Verfassungsmäßigkeit entscheiden. Das darf – insbesondere bei Bundesgesetzen – nur das Bundesverfassungsgericht. Bis dieses entscheidet, setzt das Gericht das Verfahren aus und wartet auf die Entscheidung.

Von dieser Praxis hat das Verwaltungsgericht Osnabrück am 3. September Gebrauch gemacht. Gegen eine Pflegehelferin wurde 2022 basierend auf § 20a Infektionsschutzgesetz (IfSG) ein Betretungs- und Tätigkeitsverbot ausgesprochen, weil sie keinen Impf- oder Genesenennachweis vorlegte. Hiergegen klagte sie vor dem Verwaltungsgericht Osnabrück.

Lars Schaade, Präsident des RKI, war in Osnabrück als Zeuge geladen.
Lars Schaade, Präsident des RKI, war in Osnabrück als Zeuge geladen.IPON/imago

Das Verwaltungsgericht sollte darüber entscheiden, ob dieses Verbot rechtmäßig war. Dies zu einem Zeitpunkt, zu dem die RKI-Protokolle bereits öffentlich zugänglich gemacht worden waren.

Das Gericht setzte die mündliche Verhandlung an, lud Herrn Prof. Dr. Schaade, Präsident des RKI, als Zeugen und erklärte bereits in einer Pressemitteilung vor der Verhandlung, dass der Zeuge zu Passagen der RKI-Protokolle befragt werde. Somit wurden die geleakten RKI-Protokolle richtigerweise als Erkenntnisquelle herangezogen und nicht etwa mit wenigen Sätzen als rein interner Austausch abgetan, den man ignorieren könne. Die 3. Kammer des Verwaltungsgerichts Osnabrück erkannte wohl die RKI-Protokolle als das, was sie sind – nämlich Ergebnisprotokolle –, und war sehr gut vorbereitet und tief in die RKI-Protokolle eingestiegen.

Nach der mündlichen Verhandlung, die die Befragung des RKI-Präsidenten als Zeugen zum Gegenstand hatte, veröffentlichte das Gericht in einer Pressemitteilung, dass es die Unabhängigkeit der behördlichen Entscheidungsfindung infrage stelle. Das RKI hätte das Bundesgesundheitsministerium von sich aus über neue Erkenntnisse aus Wissenschaft und Forschung informieren müssen.

Dazu gehören auch Erkenntnisse über Wirkung und Wirksamkeit der Covid-Impfung. Die Impfpflicht wurde vom Gesetzgeber damit begründet, dass vulnerable Personen vor einer Ansteckung durch ungeimpftes Personal geschützt werden müssen. Wie allgemein bekannt ist, schützt die Covid-Impfung aber nicht vor Ansteckung. Ungeimpftes Personal war somit nicht ansteckender als geimpftes Personal.

VG Osnabrück: Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit und Berufsfreiheit wurden verletzt

Den RKI-Protokollen sind pikante Informationen zu entnehmen, zu welchem Zeitpunkt die Behörde bereits wusste, dass die Covid-Impfung nicht vor Ansteckung schützt. Das Gericht hält somit die einrichtungsbezogene Impfpflicht für verfassungswidrig und damit die Beurteilung des Bundesverfassungsgerichts, dass die einrichtungsbezogene Impfpflicht verfassungsgemäß ist, für überholt. Das Verwaltungsgericht teilt mit, dass die Norm des § 20a IfSG das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) und die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) verletze.

Jetzt also liegt der § 20a IfSG erneut beim Bundesverfassungsgericht. In den Medien und den sozialen Netzwerken wird bereits gemunkelt, dass das oberste Gericht seiner Linie treu bleiben werde. Das gemeinsame Essen zwischen dem Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Prof. Harbarth und Frau Merkel fällt in diesem Zusammenhang oft als Argument. Dies sei ein Zeichen, dass die rechtsprechende Gewalt ebenso wie die politischen Verantwortlichen keine Aufarbeitung des Unrechts der Corona-Zeit zulassen wollen.

Eine Pflegerin auf der Intensivstation während der Corona-Pandemie
Eine Pflegerin auf der Intensivstation während der Corona-PandemieBoris Roessler/dpa

Auch dass sich das Bundesverfassungsgericht in der Corona-Zeit nicht mit Ruhm bekleckert hat, als es um die Verteidigung unserer Grundrechte ging, ist häufig zu lesen. Die fundamentalen Grundrechtseinschränkungen in der Corona-Zeit kritisierten allerdings auch namhafte Juristen. Einer, der früh warnte und später dann deutlich die unzureichende Verteidigung der Grundrechte kritisierte und eine Aufarbeitung der Corona-Zeit fordert, ist der ehemalige Prä­si­dent des Bundesverfassungsgerichts Prof. Hans-Jür­gen Pa­pier.

Bundesverfassungsgericht könnte Chance zur Aufarbeitung nutzen

Das Bundesverfassungsgericht könnte jetzt zur Aufarbeitung einen ersten höchstrichterlichen Aufschlag machen und anhand der RKI-Protokolle die damalige Situation – zumindest in puncto einrichtungsbezogene Impfpflicht – neu bewerten.

Dies könnte das Gericht sogar ohne Gesichtsverlust schaffen und die eigene Rechtsprechung korrigieren. Denn tatsächlich tragen der Gesetzgeber und insbesondere die Bundesregierung die Verantwortung für Gesetze, die verfassungswidrig waren. Der Pflicht zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit der eigenen Gesetze ist der Gesetzgeber nicht nachgekommen.

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Das Bundesverfassungsgericht ist mit den RKI-Protokollen in der Lage, eine Änderung der Erkenntnislage festzustellen, ohne dabei einen eigenen Fehler einräumen zu müssen. In einer Entscheidung zu schreiben, dass durch die RKI-Protokolle nun offensichtlich wurde, dass die Öffentlichkeit, Ministerien und Gerichte nicht über die tatsächliche Wirksamkeit bzw. Unwirksamkeit der Covid-Impfung fachlich korrekt informiert wurden, ist leicht möglich. Dabei würde das Gericht nicht einmal bei der Abfassung der Entscheidung ins Schwimmen kommen. Das behördliche Versagen, das Zurückhalten von Informationen und das Nicht-Überwachen von verfassungswidrig gewordenen Normen sind alles Vorwürfe, die erhoben werden können, aber nicht das Problem des Bundesverfassungsgerichts darstellen.

Das Verwaltungsgericht Osnabrück liefert dem obersten Gericht bereits eine Steilvorlage, indem es aufzeigt, dass der Gesetzgeber seiner Normbeobachtungspflicht nicht gerecht geworden sei. Die Norm, die die einrichtungsbezogene Impfpflicht regelt, sei „in die Verfassungswidrigkeit hineingewachsen“. Diesen Elfmeter muss das Bundesverfassungsgericht jetzt nur noch versenken.

Dr. med. Friedrich Pürner ist Facharzt für Öffentliches Gesundheitswesen, Epidemiologe und sitzt für das BSW im Europäischen Parlament.

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