Dies ist ein Open-Source-Beitrag. Der Berliner Verlag gibt allen Interessierten die Möglichkeit, Texte mit inhaltlicher Relevanz und professionellen Qualitätsstandards anzubieten.
Ob die jüngst vollständig ans Licht gelangten Protokolle des RKI-Krisenstabs aus der Corona-Pandemie einen Skandal offenbaren oder nicht, darüber herrscht in den Feuilletons noch Uneinigkeit. Eine „künstliche Skandalisierung“ hat in der FAZ jüngst der Rechtswissenschaftler Klaus Ferdinand Gärditz in einer Entgegnung auf die Rechtswissenschaftlerin und Philosophin Frauke Rostalski diagnostiziert. Insbesondere scheint sich Gärditz dagegen zu sperren, dass die nun schwarz auf weiß lesbare Einschätzung des empirischen Sachstands durch das RKI zu einer Reflexion über das Fundament juristischer Entscheidungen während der Pandemie führen sollte.
Ist der Wirbel um die RKI-Files tatsächlich nur ein Sturm im Wasserglas, ausgelöst durch Missverständnisse über das Zusammenwirken von Wissenschaft und Politik?
Gärditz’ Beschwichtigungsversuch überzeugt nicht. Der Kern seiner Argumentation ist dabei nicht unbedingt leicht auszumachen, aber es scheinen recht deutlich drei wesentliche Missverständnisse durch, mit denen er keineswegs allein dasteht. Es ist an der Zeit, diese zurechtzurücken, zumal manche Aussagen aus der Perspektive der empirischen Wissenschaften doch sehr erstaunen.

Fehlendes Wissen war nicht das Problem
Erstens: Gärditz hält schon das Konzept des empirischen Sachstands für eine „unterkomplexe Reduktion“; brauchbares Entscheidungswissen hätten die Naturwissenschaften kaum schnell genug liefern können. Doch an solidem und brauchbarem Entscheidungswissen fehlte es entgegen Gärditz’ Ausführungen keineswegs. Selbstverständlich gab es während der Pandemie ein festes Fundament an Fachwissen, das die Politik von einer Behörde wie dem RKI hätte einfordern und angemessen berücksichtigen müssen. Daran ändern auch „epistemische Unsicherheit“ und die politische Aufsicht des Bundesgesundheitsministeriums nichts.
Der wissenschaftliche Prozess ist zwar von Irrungen und Wirrungen durchsetzt, nur produziert er eben selbst zu Pandemiezeiten noch in leidlichem Maße solides Wissen, an dem auch politische Opportunitätsüberlegungen nicht rütteln dürfen. Empirische Wissenschaften (Natur- und Sozialwissenschaften gleichermaßen) und Technik wären nutzlos, könnten sie ein solches Fundament nicht liefern.
Selbst dort, wo Entscheidungen auf unsicherem Terrain gefällt werden, muss und kann man Unsicherheiten mit solider Fachkompetenz zumindest recht zuverlässig benennen, damit Entscheidungen nicht auf der Basis falscher Hoffnungen oder lückenhafter Risikoanalyse gefällt werden. Damit verhält es sich im öffentlichen Gesundheitswesen, in der Immunologie oder in der mathematischen Epidemiologie nicht grundsätzlich anders als in der Klimaforschung, der Luftfahrt oder der Anlagensicherheit. Wer diesen Sachstand ignoriert, sei es aus Bequemlichkeit oder - oft noch gefährlicher - aus Ehrgeiz, wird ihn als bittere Lektion von der Wirklichkeit eingebläut bekommen.
Gewiss, viel relevantes Wissen zu Sars-CoV-2 – etwa zum Übertragungsmodus oder zur Infektionssterblichkeit – musste die Forschung erst zutage fördern. Doch dieses neu zu generierende Wissen konnte aufbauen auf einem breiten Sockel etablierter Erkenntnisse und Verfahren aus Seuchenbekämpfung, Epidemiologie, Bevölkerungsschutz und anderen relevanten Disziplinen. Sobald Daten verfügbar waren – beispielsweise zur Immunität nach durchgestandener Infektion –, sprachen diese oft eine deutliche Sprache. Wo sie fehlten, hätte dank Erfahrungswissen und Theorie dennoch kein Vakuum bestanden.
Dass 2G-Regelungen oder eine Impfpflicht nicht zur Kontrolle des Infektionsgeschehens geeignet sein würden, konnte man sich fast als Übungsaufgabe ausrechnen. Freilich galt es, das Wissen um Sicherheiten und Unsicherheiten auch parat zu haben. Hätte die 7. Ad-hoc Stellungnahme der Leopoldina sich nicht auf ein nur scheinbar „hochkomplexes Modell“ gestützt und mit dem Verweis auf das damalige Vorbild Irland Rosinenpickerei betrieben, man hätte realistischer einschätzen können, ob der Lockdown im Winter 2020/21 wirklich die gewünschte Wirkung zeigen würde. Auch damit müsste sich eine kritische Analyse der Pandemiezeit auseinandersetzen.
Kurzum: Man soll dort nicht von „epistemischer Unsicherheit“ sprechen, wo man nur Handbücher aufschlagen, Publikationen tatsächlich lesen und Daten genau anschauen müsste – und zwar auch dann, wenn sie den eigenen Erwartungen widersprechen.

Auch ein rechtlich einwandfreies Systemversagen bliebe ein Versagen
Zweitens: In Widersprüchen zwischen den öffentlichen Äußerungen von Entscheidungsträgern und der internen Einschätzung der Sachlage am RKI sieht Gärditz bestenfalls ein nachrangiges Problem, jedenfalls kein juristisches. Er mag vielleicht bis zu einem gewissen Grad recht haben, wenn er an der subalternen Rolle des RKI aus juristischer Sicht im Rahmen seiner derzeitigen gesetzlichen Konstruktion nichts auszusetzen hat.
Nur bedeutet dies leider überhaupt nichts für die Tauglichkeit dieses Konstrukts zur Krisenbewältigung. Auch dort, wo sich wissenschaftliche Fragen und Wertentscheidungen mischen und man (wie vor dem Lockdown im März 2020) tatsächlich mit Unsicherheiten konfrontiert ist, muss sich das Zusammenspiel zwischen politischen Entscheidungsträgern und beratenden Fachbehörden an professionellen Standards orientieren. Dabei geht es nicht bloß um zweitrangige Stilfragen, sondern um das Herz des Krisenmanagements.
Zu diesen Standards gehören ein effektiver und möglichst unzensierter vertikaler und horizontaler Informationsaustausch ebenso wie vertrauensbildende Kommunikation gegenüber der Bevölkerung. Zwar setzen strukturelle Rahmenbedingungen einem effizienten Informationsfluss Grenzen; dem gilt es so weit wie möglich mit institutionellen Reformen zu begegnen.
Doch in den Krisenstabsprotokollen zeigen sich nicht allein strukturelle Probleme. Wenn eine Behörde im Interesse des politischen Marketings so kurzgehalten wird, dass deren fachliche Bedenken nicht zu Abgeordneten und Gerichten durchdringen, dann offenbart sich beispielhaft eine der Ten Diseases of Leadership auf der Liste des britischen Militärhistorikers Richard Holmes: „Das müssen Sie nicht wissen!“
Und die unselige Phrase von der „Pandemie der Ungeimpften“ war eben nicht, wie Gärditz meint, einfach „ein politischer Slogan“. Es war keine Losung wie „Mehr Geld für Bildung“, sondern eine desaströs eskalierende Kommunikation und damit ein objektiv schwerer Fehler im Krisenmanagement. Der zum Scheitern verdammte Aufbau eines Sündenbocks musste den Verantwortlichen erwartbar – und völlig zu Recht – auf die Füße fallen. Hätte der damalige Minister guten Beispielen folgend seinen Rang hintangestellt und auf Fachkompetenz in der zweiten und dritten Reihe vertraut, er hätte sich und dem Land viel ersparen können.
Genau hierin liegt der Skandal in den RKI-Files: Die bestehende rechtliche Konstruktion des RKI und die dortige Organisationskultur waren nicht robust genug, um einer ungeschulten und kurzsichtigen Krisenreaktion der Politik Einhalt zu gebieten, und müssen daher hinterfragt werden. Auch ein rechtlich einwandfreies Systemversagen bliebe ein Versagen.
Die fachlichen Argumente können durchaus geprüft werden
Drittens: Man kann Politik und Justiz sehr wohl abverlangen, sich in einer Pandemie mit relevanten fachlichen Grundlagen auseinanderzusetzen. Gärditz schreibt: „Politik will einfaches Entscheidungswissen. Naturwissenschaftliches Wissen ist aber meistens kleinteilig, filigran und mit hohen kognitiven Zugangshürden verbunden.“ Nun, manche der hohen „kognitiven Zugangshürden“ kann sich Politik schlicht ersparen, indem sie z. B. Gremien wie der Stiko bei Impfempfehlungen nicht ins Handwerk pfuscht.
Die Selbstbeschränkung der Politik muss nicht so weit gehen wie im schwedischen Modell, sie sollte aber greifen, bevor politische Entscheidungsträger sich an Fachfragen überheben. Wo Politiker an Fachfragen nicht vorbeikommen, müssen sie sich schließlich ernsthaft mit der Materie auseinandersetzen, wie schon das UK Covid-19 Inquiry ganz richtig bemerkt hat. Das erfordert nicht unbedingt das Wälzen dicker Lehrbücher, aber wenigstens eine Kombination aus Bildung, Urteilskraft und Menschenkenntnis, um Krisenstabssitzungen oder Expertenanhörungen als Instrumente der Erkenntnisgewinnung sinnvoll nutzen zu können.

Als Christian Drosten in der Ministerpräsidentenkonferenz am 12. März 2020 einen vermeintlich neuen Sachstand zu Schulschließungen präsentierte, reagierte Armin Laschet in diesem Sinne genau richtig, wenn er sich an widersprüchlichen Informationen stieß, anstatt sofort eine vermeintliche neue Gewissheit zu akzeptieren. Gestandene Politiker und Juristen sind den vermeintlichen „kognitiven Hürden“ entgegen Gärditz’ Befürchtungen sehr wohl gewachsen.
Nichts hindert Judikative und Rechtswissenschaften daher an dieser Stelle, die fachlichen Argumente zu reflektieren, die ihnen während der Pandemie von der Exekutive präsentiert wurden. Mit Fragen aus den empirischen Wissenschaften ist die Justiz schließlich oft genug konfrontiert. Dass sie sich dabei nicht einfach Beliebiges vortragen lassen kann und, wie im Fall von Glaubhaftigkeitsgutachten im Strafprozess, auch Standards gegen methodische Anarchie setzen darf und soll, dürfte nicht kontrovers sein.
Man mag sich zwar damit beruhigen, dass – wie Gärditz meint – die von der Exekutive in Gerichtsverfahren vorgelegten Referenzen nur verifizieren sollten, dass Corona-Maßnahmen auf plausiblen Annahmen beruhten. Ob sich rein juristisch Sachaufklärung tatsächlich auf ein bloßes Abhaken von Formalitäten reduzieren lässt? Dies müssen die Rechtswissenschaften für sich klären. Schon im Fach selbst scheinen daran Zweifel zu bestehen.
Allerdings lebt die Justiz nicht in einem Vakuum. Wem das Vertrauen in die Institutionen am Herzen liegt, dem sollte es als Jurist nicht gleichgültig sein, wenn die Exekutive den Gerichten nicht das volle Bild vorgelegt hat. Frauke Rostalski ist angesichts der jüngsten Enthüllungen besorgt über zutage tretende „Löcher“ im Fundament juristischer Wertungsentscheidungen. Diese Perspektive auf die juristischen Implikationen der Krisenstabsprotokolle halte ich für die deutlich verantwortungsvollere. Ein gelehrtes juristisches Achselzucken leistet hingegen keinen Beitrag zur besseren Vorbereitung auf zukünftige Krisen.







