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Staatliche Ballettschule Berlin: Zerstört auf Verdacht

Wie Medien und Politik eine Ballettschule zu Fall brachten – und was das über den Journalismus unserer Zeit sagt.

Unterricht in der Staatlichen Ballettschule Berlin
Unterricht in der Staatlichen Ballettschule BerlinKonrad Hrisch

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Im Jahr 2011 eröffnete in Berlin ein Leuchtturmprojekt der Kultur- und Bildungspolitik: Die Staatliche Ballettschule Berlin bezog einen der modernsten Schulneubauten Europas. Mit großzügigen Studios, eigenem Theater, Internat und Mensa setzte das Land Berlin ein starkes Zeichen für die professionelle Tanzausbildung. Auch pädagogisch und künstlerisch war die Schule unter der Leitung von Ralf Stabel und Gregor Seyffert auf internationalem Spitzenniveau etabliert.

Heute ist von diesem Glanz wenig geblieben: Die Schülerzahlen sind rückläufig, das künstlerische Niveau gilt als geschwächt, der Ruf der Schule ist beschädigt. Nicht etwa aufgrund belegter Missstände – sondern durch eine unheilvolle Dynamik zwischen politischem Kalkül und medialer Skandalisierung. Was als notwendige Aufklärung verkauft wurde, entpuppt sich im Rückblick als destruktiver Prozess mit gravierenden Folgen.

Staatliche Ballettschule Berlin, Luftaufnahme, 2018
Staatliche Ballettschule Berlin, Luftaufnahme, 2018Konrad Hirsch

Skandal ohne Substanz

Der Wendepunkt kam im Frühjahr 2020. Verschiedenste Medien – regional sowie überregional – berichteten über angeblichen psychischen Druck, Bodyshaming und autoritäre Pädagogik. Doch eine tiefere Prüfung zeigt: Die erhobenen Vorwürfe stützten sich auf Einzelberichte und anonyme Schreiben – ohne dass systemische Missstände je belegt wurden. Differenzierte Stimmen fanden kaum Gehör, Widersprüche wurden ignoriert.

Trotz ausstehender Untersuchungen reagierte die Bildungspolitik überstürzt. Noch vor Abschluss einer eigens eingesetzten Kommission wurde das Leitungsteam entlassen. Fristlose Kündigungen folgten – die später vor Gericht keinen Bestand hatten. Die Schule verlor ihre Führung – nicht wegen nachgewiesener Verfehlungen, sondern unter dem Druck öffentlicher Erregung.

Moral statt Aufklärung

Was folgte, war keine Aufarbeitung, sondern eine Moralkampagne. Medien schürten Empörung, die Politik lieferte Sanktionsentscheidungen. Das Ergebnis: institutionelle Lähmung. Die Exzellenz, die etwa im international gefeierten Landesjugendballett sichtbar war, geriet ins Abseits. Die Schülerzahlen sanken, das Vertrauen schrumpfte.

Seit Jahren reproduzieren einige Medien das ursprüngliche Zerrbild. Erst kürzlich titelte eine vielgelesene Tageszeitung erneut, die Schule sei „nicht zu retten“ – ohne Einordnung, ohne Selbstkritik. Seinem eigenen journalistischen Leitmotiv „Rerum cognoscere causas“ – „die Ursachen der Dinge erkennen“ – blieb dieses Medium über die gesamte Berichterstattung hinweg nicht treu. Eine gründliche Ursachenforschung unterblieb, Widersprüche wurden ausgeblendet.

Belegte Fakten wurden ignoriert: Der oft zitierte „Brandbrief“ des Kollegiums war in Wirklichkeit ein interner Antrag auf Fürsorgeprüfung, keine Anklageschrift. Eine unabhängige Befragung aller Mitarbeitenden ergab: Es bestand keine Gefährdung der Fürsorgepflicht. Der vermeintliche Skandal beruhte auf verzerrter Darstellung – befeuert von einer Presse, die eher Narrative als Nachweise suchte.

Schüler der Staatlichen Ballettschule Berlin bei einer Aufführung 2017
Schüler der Staatlichen Ballettschule Berlin bei einer Aufführung 2017Christophe Gateau/dpa

Der lange Schatten politischer Entscheidungen

Gleichzeitig versäumte es die Bildungsverwaltung, objektiv zu prüfen. Getrieben von öffentlichem Druck und politischem Profilierungswillen traf sie weitreichende Personalentscheidungen – mit rechtswidrigen Kündigungen, deren institutionelle Folgen bis heute spürbar sind. Eine sachliche Rehabilitierung der damaligen Schulleitung erfolgte zu spät, ihre Karrieren blieben zerstört.

Dass der RBB inzwischen mehrere kritische Beiträge klammheimlich aus dem Netz nahm, wirkt wie ein leises Eingeständnis. Eine sichtbare Selbstkorrektur blieb jedoch aus. Dabei war es der RBB, der als erstes Medium von einem „Skandal“ sprach und durch seine scharfe Berichterstattung die öffentliche Wahrnehmung maßgeblich prägte.

Anstatt differenziert über die komplexen Herausforderungen der Schule zu berichten, schürte der Sender eine Skandaldynamik, die bestehende Probleme überzeichnete und in ein moralisches Drama verwandelte. Diese Form der Berichterstattung verhärtete die Fronten, stiftete Verwirrung und lähmte eine sachliche, konstruktive Debatte.

Ein ähnliches journalistisches Versagen offenbarte sich beim RBB im Fall des Grünen-Politikers Stefan Gelbhaar. Im Dezember 2024 berichtete der Sender über angebliche Belästigungsvorwürfe gegen Gelbhaar, gestützt auf eine eidesstattliche Erklärung einer vermeintlichen Zeugin. Später stellte sich heraus, dass diese Person nicht existierte und die Erklärung gefälscht war. Die Empörung war so groß, dass der RBB sich öffentlich entschuldigte und personelle Konsequenzen zog, darunter der Rücktritt des Chefredakteurs und der Programmdirektorin. Im Gegensatz dazu fehlt bis heute eine vergleichbare Aufarbeitung oder Entschuldigung des Senders in Bezug auf die Berichterstattung zur Staatlichen Ballettschule.

Berlins damalige Bildungssenatorin Sandra Scheeres (v.l.n.r.), Gregor Seyffert und Ralf Stabel, 2017
Berlins damalige Bildungssenatorin Sandra Scheeres (v.l.n.r.), Gregor Seyffert und Ralf Stabel, 2017Christophe Gateau/dpa

Die Journalistin Birgit Walter wagte es, sich dem publizistischen Gruppendruck zu widersetzen. In einer Serie von Beiträgen brachte sie verschiedene Perspektiven ein. Die differenzierte Darstellung des Falls hatte für die Journalistin und den Berliner Verlag sogar juristische Konsequenzen.

Die zivilgesellschaftliche Initiative Save the Dance dokumentiert lückenlos, wie politische Kurzschlüsse und mediale Einseitigkeit eine herausragende Bildungsinstitution beschädigten. Wer sich dort unabhängig informiert, erkennt: Die offizielle Skandalgeschichte ist weder vollständig noch objektiv.

Das Ost-West-Narrativ

Ein bislang wenig beachteter Aspekt: Die ehemalige Schulleitung bestand aus zwei renommierten ostdeutschen Persönlichkeiten – Ralf Stabel, Kulturwissenschaftler, und Gregor Seyffert, Träger des Deutschen Tanzpreises. In der westlich geprägten Berliner Kulturlandschaft wurden ihre Verdienste offenbar nicht vorbehaltlos anerkannt. Statt einer Debatte über pädagogische Konzepte dominierten Stereotype: autoritärer Ton, „ostdeutsche Härte“, Drill.

Ein vertrautes Narrativ, das selbst jene bedienten, die sonst Differenzierung einfordern. In einer Stadt, die weiterhin mit den kulturellen Nachwirkungen der Teilung ringt, wirft das Fragen nach tieferliegenden Vorurteilen auf.

Was darf Journalismus zerstören?

Der Fall der Staatlichen Ballettschule Berlin ist ein Lehrstück über die Verantwortung von Medienmacht. Wenn Journalismus nicht aufklärt, sondern beschädigt – wer kontrolliert ihn dann? Es geht nicht um Zensur, sondern um Professionalität, Maß und Selbstreflexion. Medien, die systemrelevant sind, brauchen auch systemische Rechenschaft.

Denn der angerichtete Schaden bleibt: Der Verlust einer Exzellenzinstitution, gebrochene Biografien, ein erschüttertes öffentliches Vertrauen. Und das Schweigen vieler Verantwortlicher verstärkt diesen Schaden nur.

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Was bleibt, ist eine ruinierte Schule – und ein warnendes Beispiel für die zerstörerische Kraft einer Empörungslogik, wenn ihr niemand widerspricht. Sowie die Frage: Wie gedenkt die Berliner Bildungssenatorin, Frau Günther-Wünsch, diese ruinierte Schule wieder zu dem zu machen, was sie einmal war?

Konrad Hirsch ist Filmemacher und Journalist aus Berlin.

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