Man stelle sich folgendes Szenario vor: Der Staat hat bundesweit Durchfahrtsverbote verhängt. Er kann aber keine Verbotsschilder aufstellen, weil er selbst nie genau weiß, welche Durchfahrt verboten ist. Er kann nur Tipps geben, woran man eine verbotene Durchfahrt möglicherweise erkennt.
Was wie esoterische Verkehrspolitik klingt, wurde als Prostitutionspolitik genau so umgesetzt: Der Staat hat bundesweit Sexkaufverbote verhängt. Er kann aber keine „Verbotsschilder“ aufstellen, weil er selbst nie genau weiß, welcher Sexkauf verboten ist. Er kann nur Tipps geben, woran man einen verbotenen Sexkauf möglicherweise erkennt.
Das Problem, wie man Zwangsprostitution erkennen kann
Wie bitte? Oh ja. Seit 2016 ist es in Deutschland verboten, Sex zu kaufen – bei Zwangsprostituierten. Doch bis heute bleibt offen, wie Freier Zwangsprostituierte von Prostituierten unterscheiden sollen. Stephanie Klee vom „Bundesverband Sexuelle Dienstleistungen“ erklärt: „Ein Kunde kann nicht erkennen, ob eine Frau zur Prostitution gezwungen wird.“
Die Politik weiß das. Sie hört seit Jahren Sachverständige zum Thema, auch den Strafrechtsprofessor Joachim Renzikowski. Der schreibt in einem Artikel aus diesem Jahr: „Wenn schon der Polizei und den Fachberatungsstellen die Identifizierung von Menschenhandelsopfern schwerfällt, wird kaum ein Prostitutionskunde über entsprechendes Sonderwissen verfügen.“
Jeder Täter ist einer zu wenig
Wohin führt das esoterische Sexkaufverbot? Wenn Freier nicht wissen, welcher Sexkauf verboten ist, wissen sie auch nicht, ob sie gerade „Kunde“ oder Täter sind. Das heißt, der Politik ist zwar kein Verbot gelungen, wohl aber die Umsetzung des Gedankenexperiments von „Schrödingers Katze“, die gleichzeitig tot und lebendig ist: „Schrödingers Freier“ ist gleichzeitig „Kunde“ und Täter.
Die Politik gibt de facto also grünes Licht: für kommerzialisierte Vergewaltigungen, mit „Kunden“ als Tätern und mit Opfern, die in Vollzeit vergewaltigt werden. Bisher rechtfertigt sie das damit, dass die meisten Prostituierten „es“ freiwillig machen. Aber woher weiß die Politik das? Sie kann nicht wissen, wie viele „es“ überhaupt machen. Wie kann sie wissen, dass die meisten von denen, von denen sie nicht weiß, wie viele es sind, „es“ freiwillig machen?
Dass „Schrödingers Freier“ unterdessen nicht nur in Einzelfällen als Täter unterwegs ist, belegt das jährliche Bundeslagebild Menschenhandel und Ausbeutung. In der diesjährigen Ausgabe sind 476 Opfer sexueller Ausbeutung erfasst. Alle diese Opfer hatten „Kunden“, also Täter. Das Bundeskriminalamt hält zudem fest: „Nach wie vor muss im Bereich Menschenhandel und Ausbeutung von einem hohen Dunkelfeld ausgegangen werden.“

Die volle Täterfreundlichkeit des Rechtsstaats
Wie viele Prostituierte „es“ freiwillig machen, wird die Politik nie wissen. Was sie sicher weiß, ist, dass Jahr für Jahr Tausende oder Zehntausende „Kunden“ mehrere Hundert meist weibliche Opfer vergewaltigen. Sie weiß auch, dass es ein hohes Dunkelfeld gibt, mit Zehntausenden weiteren Tätern, die sie standardmäßig als „Kunden“ einstuft. Und sie weiß, dass ihr esoterisches Sexkaufverbot nicht mal die Wirkung von Globuli hat: Auch wenn man dran glaubt, funktioniert es nicht.
Zu diesem Fazit kam fünf Jahre nach der Einführung das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN): „Sowohl die Fallzahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik als auch die Zahl der Strafverfahren und Verurteilungen in den analysierten Akten bewegen sich in einem derart niedrigen Bereich, dass das Risiko für eine:n Freier:in, wegen einer Tat nach § 232a Abs. 6 S. 1 StGB verfolgt zu werden, gegen null geht.“
Inzwischen wurde das Verbot zwar ausgeweitet: Seit 2021 machen sich „Kunden“ nicht mehr nur bei einem vorsätzlichen Verstoß strafbar, sondern schon bei einem leichtfertigen Verstoß. Aber ob sie als „Schrödingers Freier“ gerade eine „Dienstleistung“ beanspruchen oder eine Vergewaltigung begehen, wissen sie immer noch nicht.
Die Täter spielen für die Behörden kaum eine Rolle
Ähnlich sehen es die Forscher*innen vom KFN. In einem Artikel aus diesem Jahr weisen sie auf die Fragwürdigkeit der Indizien hin, die der Gesetzgeber zur Beurteilung der Leichtfertigkeit genannt hat. Dazu gehören etwa „Merkmale der Gewaltanwendung“, „die Bezahlung an den Zuhälter“ oder „wenn sich der Zuhälter im Nebenzimmer aufhält“. Wie, fragen die Forscher:innen, will man Freiern „in der für eine strafrechtliche Verurteilung erforderlichen Weise nachweisen, sie hätten gewusst, dass es sich […] um einen Zuhälter handelte?“
Und so kommt es, dass Zehntausende „Kunden“, das heißt Zehntausende Täter, auch im jüngsten Bundeslagebild keine Rolle spielen. Das Bundeskriminalamt teilt mit: „Die Freierstrafbarkeit ist in § 232a Abs. 6 StGB geregelt und stellt somit nur einen Teil der im Bundeslagebild Menschenhandel und Ausbeutung 2022 ausgewiesenen 199 Fälle von Zwangsprostitution (§ 232a Abs. 1 bis 6 StGB) dar. Zur genauen Anzahl, wie viele Freier sich im Berichtsjahr strafbar gemacht haben, liegen keine Angaben vor.“

Keine Kulanz für „Schrödingers Freier“
Wegsehen war noch nie eine Lösung. Wenn ein esoterisches Verbot nicht funktioniert, muss die Politik ein eindeutiges Verbot erlassen. Umso mehr, als „Schrödingers Freier“ nicht nur für systematischen Rechtsbruch steht: Er steht vor allem für Vergewaltigung als lässliches Kundendelikt.
Von der Idee, dass eine Trennung zwischen Zwangsprostitution und Prostitution möglich sei, kann sich die Politik verabschieden: „Schrödingers Freier“ veranlasst durch seine legale und entsprechend große Nachfrage beides – und verbindet es untrennbar. Heute kauft er eine „Dienstleistung“, nächste Woche eine Vergewaltigung. Oder heute eine Vergewaltigung und nächste Woche eine Vergewaltigung? Das hohe Dunkelfeld ist da – und es ist zu hundert Prozent „kundenfinanziert“.
Ein Verbot, das so angelegt ist, dass es praktisch nicht durchsetzbar ist, kratzt an der Verfassungswidrigkeit. Die KFN-Forscher:innen sind schon jetzt skeptisch: Man könne, da die Kriterien zur Beurteilung leichtfertigen Handelns kaum überzeugen, „begründet vermuten, dass sich auch die nunmehr um leichtfertiges Handeln erweiterte Freierstrafbarkeit als Fehlschlag erweisen wird.“
Die Rechnung ist dann einfach: Jeder Sexkauf muss verboten werden, ist er doch vom Vergewaltigungskauf nicht zu unterscheiden. Und noch etwas stört: „Die Kunden sind ein Spiegelbild der Gesellschaft“, sagt Stephanie Klee. „Alle kommen. Der Taxifahrer, der Bruder, der Richter, der Priester, der Kollege, der Polizist.“ Konkret heißt das: Zu viele Männer nehmen Vergewaltigung im Zuge einer „Dienstleistung“ in Kauf. Es darf nicht Aufgabe der Politik sein, sie weiter als „Kunden“ in unsere Wertegemeinschaft zu integrieren, während Zwangsprostituierte draußen bleiben müssen.




