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Regisseurin Chiara Fleischhacker: „Da war ich plötzlich völlig desillusioniert“

Mit ihrem Spielfilmdebüt „Vena“ sorgt die Filmemacherin Chiara Fleischhacker gerade für Aufsehen. Ein Gespräch über Preise, Selbstwert und Mutterschaft.

Chiara Celander Fleischhacker war früher Leistungssportlerin, inzwischen macht sie anspruchsvolle Filme.
Chiara Celander Fleischhacker war früher Leistungssportlerin, inzwischen macht sie anspruchsvolle Filme.Geisler-Fotopress/picture alliance

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Frau Fleischhacker, Sie haben Regie/Dokumentarfilm an der Filmakademie Baden-Württemberg studiert und im Anschluss ein paar Kurz- und Dokumentarfilme gedreht. Wie ist in Ihnen die Idee gewachsen, einen Spielfilm zu machen?

Ich habe zuerst Psychologie in Freiburg studiert und dort „Das Gefühl des Augenblicks“ gelesen – ein Buch zur Dramaturgie des Dokumentarfilms. Der Blick auf die Welt und das Menschsein, was ich dort erfahren konnte, hat mich fasziniert. Das war der Anfang meiner Faszination für den Dokumentarfilm. Irgendwann habe ich ein Porträt über einen wegen Mordes verurteilten Mann gedreht, wodurch bei mir die Frage nach Nähe und Distanz im Dokumentarfilm sehr brisant geworden ist. Ich finde es sehr schwierig, sich so tief in ein Leben einzuarbeiten, dennoch aber die nötige Distanz zu finden. Damals war ich gerade 24, das hat mich sehr beschäftigt. Kurz darauf bin ich an die Filmhochschule La Fémis nach Paris gegangen und habe dort ein Programm besucht, dass szenisch ausgerichtet war – dort habe ich Blut geleckt.

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dpa
Zur Person
Chiara Fleischhacker wurde 1993 in Kassel geboren. Sie studierte erst Psychologie in Freiburg, dann Regie und Dokumentarfilm an der Filmakademie Baden-Württemberg. Während des Studiums drehte sie mehrere Dokumentarfilme und szenische Kurzfilme. Mit ihrem Abschlussfilm „Vena“ gewann sie beim Filmfest Hamburg in der Kategorie „Deutsche Kinoproduktionen“ und erhielt den First-Steps-Award.

Sie haben zu „Vena“ auch das Drehbuch geschrieben. Einige Ihrer vorherigen Filme spielen im Strafvollzug, Mutter sind Sie auch – beides zentrale Themen in „Vena“. Kam dadurch die Geschichte zustande?

Ja. Ich war gerade mit meiner Tochter schwanger, hatte mich bis dahin sehr auf den Männerstrafvollzug fokussiert, mich durch meine Situation dann aber gefragt, wie das wohl für schwangere Frauen sein muss. Das war der Initiator, um eine sehr umfangreiche Recherche zu starten, aus der ich dann angefangen habe, das Drehbuch zu schreiben.

Die Idee ist also zeitgleich mit Ihrer Tochter gewachsen.

Ja. Ich habe viel nachts geschrieben, wenn sie geschlafen hat. Oder mittags, wenn sie Mittagsschlaf gemacht hat. Ich war irgendwann so konditioniert: Kind schläft, Laptop aufklappen – wahnsinnig ungesund. Aber so habe ich „Vena“ überhaupt nur schreiben können.

Das klingt sehr anstrengend.

War es auch, aber ich habe mich mit der Darstellung von Müttern in Filmen gar nicht identifizieren können und habe mich damals total unterrepräsentiert gefühlt. Ich hatte ein starkes Bedürfnis, Bilder in die Welt zu tragen, die immer noch nicht vorhanden sind, und die große Irritationen bei vielen auslösen, die Eltern werden: Warum fühlt sich das so anders an, als ich es bisher gesehen habe? Bin ich komisch? Bin ich anders? Bin ich allein? Mir war es wichtig, ein realistischeres Bild von Mutterschaft zu zeigen.

Also war Ihr Zugang zu „Vena“ vor allem emotionaler Natur?

Ich verstehe erst jetzt, warum es mir damals so wichtig war, „Vena“ zu schreiben. Ich habe damals selbst in einer sehr ungesunden Beziehung gelebt und merke jetzt, wie viel die emotionalen Ebenen im Film mit meinen damaligen Leben zu tun hatten. Ich weiß, wie sich das anfühlt, sich an jemanden zu binden, der einem nicht guttut; wie es ist, sich nicht wertvoll genug zu fühlen. Ich weiß, wieso man sich lange in ungesunden Situationen hält, obwohl man eigentlich ausbrechen müsste. Jenny, die Hauptfigur in „Vena“, geht ihre Schritte, weil ich die damals gehen musste.

Mit „Vena“ haben Sie beim Filmfest Hamburg in der Kategorie „Deutsche Kinoproduktionen“ gewonnen, außerdem den First-Steps-Award für den „besten abendfüllenden Spielfilm“; und der „Michael-Ballhaus-Preis“ ging an Ihre Kamerafrau Lisa Jilg. In der Begründung bei den First-Steps-Awards hieß es, dass Sie eine Geschichte erzählen, die vor Klischees nur so triefen könnte, dass es Ihnen aber gelungen sei, dem Publikum die Welt von Jenny ohne Sozialkitsch näherzubringen. Wie haben Sie das hingekriegt?

Der Gedanke, Jenny durch die Bildsprache wertschätzend darzustellen, durch die Farben, die Elemente, die sie ausmachen, der war schon sehr früh da. Mir war klar, dass ich mich übers Bild und die Geschichte abgrenzen muss von den Konnotationen, in die eine Figur wie Jenny oft gesetzt wird – zumal ich sie eben auch nicht so weit weg von unserer Lebensrealität empfinde. Jenny als Figur ist durch viele Gespräche mit Menschen aus der Recherche, aber auch durch Beobachtungen in meinem Lebensumfeld entstanden. Ich habe mich viel am Leben orientiert, nicht an Filmen.

Weil wir gerade über Preise sprechen. Allzu viele Filme haben Sie bisher noch nicht gedreht, im Vergleich dazu aber schon jede Menge Preise gewonnen. Was bedeuten Ihnen solche Preise?

Um ehrlich zu sein, stehe ich Preisen sehr kritisch gegenüber. Ich komme aus dem Leistungssport, bin 800 Meter gelaufen, und habe mich von der Leichtathletik abgewandt, weil ich dieses Konkurrieren als sehr ungesund empfunden habe. Ich habe dem Druck damals nicht standgehalten, hab Essstörungen entwickelt. Das war keine Welt, von der ich Teil sein wollte. Film ist ein Feld, in dem man seine Arbeit meiner Meinung nach nicht bewerten lassen kann, das ist ja eine Form von Kunst. Viele Filmschaffende sind aber so stark auf Festivals und Preise ausgerichtet, was uns alle vom eigentlichen Ansatz ablenkt, gute und relevante Geschichten zu erzählen.

Zumal ja auch selten klar ist: Wer bewertet was nach welchen Kriterien?

Ganz genau. Wer sitzt in den Jurys, welche Prägung haben die Leute dort, wen zeichnen die aus welchen Gründen aus und was sind die Werte, die sie vertreten? Die aktuelle Debatte um das Camerimage-Festival ist da ein gutes Beispiel. Aber die ganze Filmförderung baut dennoch auf diesen Referenzmitteln auf. Ich würde mir daher definitiv eine Entfernung von diesen Wettbewerben und Preisen wünschen und glaube, dass das dem Film sehr guttun würde.

Apropos Selbstwert: Das scheint mir auch ein übergeordnetes Thema von „Vena“ zu sein.

Absolut. Solche Fragen wie: Wie finden wir als Menschen unseren Selbstwert? Wie stehen wir für uns ein? Das sind Prozesse, die uns alle lange begleiten. Manche Menschen verlieren Jahrzehnte ihres Lebens, gehen unzählige Umwege, ohne da zu einer gesunden Erkenntnis zu gelangen. Und mein Wunsch als Filmemacherin wäre natürlich, dass man in Jenny eine Figur findet, der dieser Prozess gelingt und an der man merkt: Das könnte ich auch schaffen.

Seit ich Vater bin, fällt es mir ungemein schwer, mir Filme und Serien anzusehen, in denen Kinder zu Schaden kommen. Die Kinder in „Vena“ haben einen denkbar schlechten Start ins Leben. Ist es Ihnen schwergefallen, das herauszuarbeiten?

Jenny konsumiert Crystal, und das ist für ungeborene Kinder so ziemlich das Schlimmste, was man ihnen antun kann – einhergehend mit dem mentalen Ballast. Fakt ist aber ja, dass es Frauen wie Jenny gibt und ich mir die Frage gestellt habe: Wie kommt man da raus und was ist der Ursprung von Konsum? Crystal ist für mich aber lediglich ein Symbol für alle Suchtformen, die es gibt – und eher ein Ausdruck dafür, dass Menschen versuchen, irgendwie ihre innere Leere zu füllen.

Ein Umstand, den die meisten Menschen sicher kennen.

Bestimmt – wenn auch hoffentlich nicht mit einer solchen Suchtgeschichte. Eine Therapeutin meinte in einem Gespräch mal zu mir: „Die Mütter müssen begreifen, dass sie das Kind nicht als Rettung sehen können – und nicht nur des Kindes wegen aufhören zu konsumieren.“ Denn um nachhaltig abstinent zu bleiben, müssen die für sich selbst den Wunsch treffen, ein gesünderes Leben zu führen. Das hat ganz viel mit dem bereits erwähnten Selbstwert zu tun, den wir alle halten und kultivieren sollten. Deswegen ist das für mich eher ein Sinnbild dafür, für uns einzustehen und für die nachfolgende Generation da zu sein. Das betrifft nicht nur Drogenkonsum, sondern auch Traumata, die man auf Kinder überträgt. Daher sollte man es immer schaffen, seine Themen zu klären, um Kindern im besten Falle etwas Besseres mitzugeben.

Ihr Film kommt ohne sonderlich viele Darsteller aus, der Fokus liegt ganz klar auf Jenny. Mit Emma Nova haben Sie dafür eine fantastische Hauptdarstellerin gefunden. Wie sind Sie auf sie gekommen?

Wir haben eine ganz tolle Casterin, Laura Buschhagen, die habe ich damals mit meiner Tochter auf dem Rücken in Hannover besucht. Wir saßen dann bei ihr auf dem Sofa, und als Allererstes hat sie Emma vorgeschlagen – und Cosima Henman. Wir haben dann einen sehr langen Casting-Prozess gehabt, um am Ende doch wieder bei Emma anzukommen. Zwischenzeitlich hatten wir auch die Idee, eine wirklich schwangere Schauspielerin zu finden – eigentlich eher aus dem Gedanken heraus, dass viele schwangere Schauspielerinnen sich wünschen, noch weiterzuspielen, dann aber aufgrund ihrer Schwangerschaft ausgegrenzt werden. Aber erstens gab es gar nicht so viele, die das wollten und die wir gefunden haben, und zweitens hätte man das in der Komplexität des Drehs nicht machen können. Das wäre nicht in Ordnung und für eine Schwangere zu viel gewesen.

Dann also Emma.

Genau. Die war von Anfang an superprofessionell, total gut vorbereitet und hat intuitiv schon sehr viel aus dem Drehbuch gezogen, noch bevor wir uns überhaupt kennengelernt haben. Für mich hat es tatsächlich länger gedauert, Emma kennenzulernen als Jenny. Ich weiß noch: Beim Bergfest hatte Emma so einen roten französischen Hut auf, und ich dachte nur: „Krass – so sieht eigentlich Emma aus!“ (lacht)

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Wenn man sich den Stab ansieht, fällt auf, dass mehr Frauen als Männer daran beteiligt waren. Ist das Zufall oder haben Sie darauf geachtet?

Das ist natürlich entstanden, wahrscheinlich auch durch die Geschichte. Teamsuche funktioniert ja teilweise über Pitch, und da haben sich eben die gemeldet, die von der Geschichte ergriffen waren – das waren mehr Frauen. Für mich ist ein so hoher Frauenanteil meine Lebensrealität. Nächstes Jahr gründe ich mit zwei anderen Frauen aus der „Vena“-Zeit sogar eine eigene Produktionsfirma.

Das klingt super.

Aber ich weiß, dass ich mich da in einer Blase bewege. Letztes Jahr im Winter war ich mal in Berlin und bin durch Kreuzberg gelaufen. Da hat irgendwo ein Dreh stattgefunden und ich hab da nur Männer am Set gesehen. Ich war total irritiert, weil ich dachte: Das passiert doch gar nicht mehr, oder? Dann lief da einer ganz wichtig rum mit seinem Funkgerät, und den habe ich dann gefragt: „Wo sind denn bei euch die Frauen im Team?“ Und der nur so: „Die sitzen in der Maske.“ Da war ich plötzlich völlig desillusioniert. Aber das passiert mir oft, dass ich denke, dass man als Gesellschaft und in der Branche schon weiter ist, und dann feststellen muss: Nee, an ganz vielen Stellen ist es noch nicht so. Dann hört man ja sogar, dass es Regisseure gibt, die plötzlich Angst haben, dass sie bald keine Jobs mehr bekommen, weil so viele Frauen jetzt die Regie übernehmen, wo ich mir nur denke: Wie absurd ist das denn, bitte?! Gerade wenn man sich die Zahlen anguckt, ist man in vielen Bereichen noch sehr weit von einer Geschlechtergerechtigkeit entfernt.

Ich kann mir den Typ Mann gut vorstellen.

Ich muss aber sagen: Ich hatte auch ganz tolle Kollegen, mit denen ich wahnsinnig spannende Gespräche hatte über die Arbeit an „Vena“, auch über die Geburtsszene, in der die Männer dann sehr ehrlich zu mir waren, wie es ist, das aus männlicher Perspektive zu schneiden; auch für den Color Grader, der jede Farbe der Vulva korrigiert hat, wie wir uns das vorgestellt haben. Es war total spannend zu merken, wie wir geprägt sind durch unser Geschlecht, welche Frauen- und Geburtsbilder in unseren Köpfen stecken.

Sie haben fast viereinhalb Jahre an „Vena“ gearbeitet. Sind Sie froh, wenn das Kapitel dann fürs Erste abgeschlossen ist?

Ich kann mich sehr gut motivieren, noch mal alles für den Film zu geben, aber ich freue mich durchaus auch schon, wenn ich „Vena“ irgendwann loslassen und mich zukünftigen Projekten zuwenden kann. Spätestens nächstes Jahr will ich wieder anfangen zu schreiben, habe schon mindestens zwei Filmideen im Kopf und kann es kaum erwarten, endlich loszulegen.

Daniel Schieferdecker arbeitet seit 15 Jahren als freier Autor für verschiedene Medien wie Zeit Online, Esquire und den Rolling Stone. Er war außerdem drei Jahre lang Chefredakteur von Europas größtem HipHop-Magazin Juice und hat zwei Bücher geschrieben: das chinesische Reisekochbuch „Forever Yang“ und die autorisierte Biografie des Rappers RAF Camora.

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