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Als Hebamme für Bücher begleite ich Frauen mit Neurodivergenz dabei, ihre authentische Geschichte in die Welt zu bringen. Ich bin überzeugt davon, dass diese Autorinnen die Literatur bereichern können, weil in ihnen zahlreiche Talente schlummern. Deshalb habe ich meine Buchbegleitung auf die besonderen Bedürfnisse von neurodivergenten Frauen abgestimmt.
Erst einmal zur Begriffsklärung: Neurodiversität bedeutet, dass jedes menschliche Gehirn einmalig ist, sogar die Gehirne von eineiigen Zwillingen unterscheiden sich in ihrer Struktur. Alle Menschen sind neurodivers, das ist eine Tatsache. Dagegen spricht man von Neurodivergenz, wenn Menschen in irgendeinem Bereich nicht die gängigen Erwartungen und Normen entsprechen, zum Beispiel bei ihrer Sensibilität gegenüber Reizen.
Ein ganz einfaches Beispiel aus der Mathematik: 1 + 1 = 2. Richtig, oder? Auf jeden Fall, wenn ich die Aufgabe neurotypisch löse. Ein neurodivergentes Kind löst die Aufgabe möglicherweise auf folgende Art: 1 + 1 = 1. Falsch, oder? Nicht unbedingt, wenn ich weiß, dass das Kind vorher zwei Flüsse beobachtet hat, die ineinandergeflossen sind. Und vielleicht fällt das Ergebnis noch ganz anders aus, wenn das Kind vorher zwei Kaninchen beobachtet hat, die Junge bekommen haben.
Es liegt also an unserer Sichtweise, welche Menschen wir als neurodivergent, also von der Norm abweichend, betrachten. Noch gelten Neurodivergenzen wie zum Beispiel Autismus oder ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung) als Entwicklungsstörung oder psychische Störung.

Kennst du eine Autistin, dann kennst du genau eine
Aber zurück zum Thema Buchveröffentlichung. Die erste Autorin, die ich bei der Verwirklichung ihres Buchtraumes begleiten durfte, ist eine junge Frau aus dem Autismus-Spektrum. Es heißt übrigens Spektrum, weil Menschen mit Autismus so vielfältig sind wie die Farben eines Regenbogens. Kennst du eine Autistin, kennst du genau eine. Und die Autistin, von der ich gerade schreibe, hat einen autobiografischen Roman verfasst.
Ihre Geschichte beginnt 2021 in Berlin, Prenzlauer Berg. Die 31-Jährige lebt zu diesem Zeitpunkt ihren Traum von der Bilderbuchfamilie: ein liebevoller Ehemann, drei bildhübsche Kinder und eine schicke Wohnung. Die beiden größeren Kinder gehen in den Waldorfkindergarten und das Baby wird liebevoll umsorgt. Doch unter der Oberfläche brodelt es.
Die junge Mutter benötigt persönliche Assistenz, um selbstbestimmt am sozialen Leben teilhaben zu können. Sie ist nicht nur Autistin, sondern bekommt auch epileptische Anfälle. Ihr Ehemann gleicht als liebevoller Vater vieles aus, doch durch sein Alkoholproblem droht die Familie zu zerbrechen. Als Mutter mit Hilfebedarf sucht Frau Liesch mehrmals Unterstützung beim Jugendamt Pankow, um das drohende Unheil von ihren Kindern abzuwenden. Leider erfährt sie dort viel Ablehnung und Unverständnis für ihre Situation.
Im Juni 2021 geschieht das Unfassbare: Ihr Ehemann stirbt und alle drei Kinder werden durch das Jugendamt von der Mutter getrennt und in Kindereinrichtungen verbracht. Obwohl die junge Frau vor einem Abgrund steht, gibt sie nicht auf. Sie kämpft um ihr Recht, mit ihren drei Kindern leben zu dürfen. Es dauert über ein Jahr, mehrere Gerichtsprozesse und mehrere Inobhutnahmen, bis sie sich das Recht auf Familie erstritten hat. Ohne ihren tiefen Glauben an das Gute hätte sie all das nicht überstanden.

Ein fast normales Leben
Heute lebt Svenja Liesch zusammen mit ihren Kindern in Salzgitter. Durch ein Assistenzteam kann die Familie ein fast normales Leben führen. Auch wenn das traumatische Jahr längst noch nicht aufgearbeitet ist. Das Schreiben eines Buches hat der Autorin geholfen, ihr Schicksal zu verarbeiten. Sie hat ihre authentische Geschichte vor allem für ihre Kinder festgehalten, damit sie später nachlesen können, was mit ihrer Familie passiert ist und dass ihre Mama sie nie aufgegeben hat.
Die Zeilen richten sich auch an die Menschen vom Jugendamt, um ihnen aufzuzeigen, welches menschliche Leid hinter Entscheidungen auf dem Papier stehen kann. Und sie will Eltern in einer ähnlichen Situation Mut zu machen. Denn Aufgeben ist für Svenja Liesch keine Option.
Sie erzählt ihre Erlebnisse radikal ehrlich und ungeschönt. Es ist besonders für sensible Menschen keine leichte Lektüre, weil sie den Albtraum jeder Mutter beschreibt. Und trotzdem macht ihre Geschichte Hoffnung, weil die Autorin Menschen mit Behinderung Lösungen für ein selbstbestimmtes Leben aufzeigt.
Ich bin der Überzeugung, dass neurodivergente Autorinnen und Autoren der Literatur mehr Tiefe geben können. Weil sie out of the box denken und so neue, kreative Lösungswege finden, gerade für solche sensiblen Themen wie Diversität, Nachhaltigkeit und Inklusion. Eins plus eins ergibt im Leben nicht immer zwei.
Beim Veröffentlichen eines Buches können sich die vermeintlichen Schwächen von neurodivergenten Menschen in Chancen wandeln. Das Schreiben hilft den Betroffenen, ihr Schicksal zu verarbeiten und verdrängte Gefühle fließen zu lassen. Ihr Leben außerhalb des Mainstreams bietet ausreichend Stoff für spannende, tiefgründige und authentische Geschichten. Ihre sensible Wahrnehmung ist eine gute Voraussetzung, um detailgenau zu beschreiben und Unstimmigkeiten in unserer Gesellschaft aufzudecken.

Autorin fordert volles Mitspracherecht ein
Die Zusammenarbeit mit der Autorin gestaltete sich anders, als es vielleicht bei einer Buchveröffentlichung üblich ist. Svenja Liesch war es besonders wichtig, eine Ansprechpartnerin auf Augenhöhe zu haben. Sie wollte auf keinen Fall als Opfer dargestellt werden, sondern als die starke Frau, die sie ist.
Beim Titel, beim Cover und beim Buchsatz forderte die Autorin ein volles Mitspracherecht ein, was sich als sehr bereichernd herausstellte. Beim Lektorat nutzen wir statt der Korrekturfunktion kurze Interviews. Für Absprachen war eine klare, schriftliche Kommunikation wichtig, da Menschen aus dem Autismus-Spektrum Doppelbotschaften und Augenkontakt oft verwirrend finden. Außerdem konnte die Autorin so das Tempo und die Fülle bei der Reizaufnahme selbst bestimmen.



