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Purer Anachronismus? Warum der Balkan keine Ordnungsmacht braucht

Benötigt der Balkan Deutschland tatsächlich als Ordnungsmacht, wie der Politikwissenschaftler Muamer Becirovic kürzlich behauptete? Unser Autor findet: Auf keinen Fall.

Illustration – Deutscher KFOR-Panzer der Vereinten Nationen (UN) in Mitrovica, Kosovo im Jahr 2004.
Illustration – Deutscher KFOR-Panzer der Vereinten Nationen (UN) in Mitrovica, Kosovo im Jahr 2004.imago

Kürzlich veröffentlichte der in Wien lebende Politikwissenschaftler Muamer Becirovic einen Beitrag mit dem Titel „Der Balkan braucht Deutschland als Ordnungsmacht, Serbiens Dominanz muss gebrochen werden“. Ich vertrete die gegenteilige Position: Was der Balkan sicherlich nicht benötigt, sind externe „Ordnungsmächte“, da diese in der Sache der Natur liegend primär ihre Interessen und nicht die Interessen der von ihnen beherrschten Völker verfolgen.

Im Übrigen schreibe ich den Begriff „Ordnungsmächte“ in Anführungsstriche. Denn was für die einen die „Ordnungsmächte“ sind, sind für die anderen die „Besatzungsmächte“.

Die „Ordnungsmächte“ respektive „Besatzungsmächte“ haben in ihrer langen Geschichte auf dem Balkan eine eigenständige gemeinsame Identitätsbildung als Grundlage einer gemeinsamen Staats- und Nationenbildung erheblich erschwert.

Balkan im Fadenkreuz der Großmächte

Mit der gewaltsamen Expansion des Osmanischen Reiches auf den Balkan bis vor die Tore Wiens war das staatliche und auch nationale Schicksal der Balkanvölker für viele Jahrhunderte besiegelt.

Angesichts der schrittweisen räumlichen Zurückdrängung des Osmanischen Reiches durch Österreich und später der habsburgischen Doppelmonarchie (K.-u.-k.-Monarchie Österreich-Ungarn) bekam der Balkan eine neue, neben dem Osmanischen Reich, eine zweite „Ordnungsmacht“. Und auch diese erschwerte die nationale Identitätsbildung, wenn sie auch nicht mehr gänzlich zu unterdrücken war.

Mit der Niederlage des Osmanischen Reiches in den beiden Balkan-Kriegen 1912/13 verschwand diese „Ordnungsmacht“ vom Balkan. Kurz darauf führte auch die Niederlage des Deutschen Reiches und der K.-u.-k.-Monarchie im Ersten Weltkrieg zur Auflösung der KuK-Monarchie. Das nationale Bewusstsein der unterdrückten Völker der beiden kollabierenden „Ordnungsmächte“ konnte sich buchstäblich über Nacht frei entfalten.

Im Ergebnis kam es zu einer gewaltigen Veränderung der Landkarte Osteuropas und vor allem Südosteuropas. Die ost- und südosteuropäischen Völker, die seit dem 19. Jahrhundert zunehmend ihre eigene nationale Identität aufzubauen begannen, schufen sich aus der Erbmasse der K.-u.-k.-Monarchie und dem Osmanischen Reich ihre eigenen Staaten.

State-building, nation-building und regionaler Nationalismus

So wurde auch das südslawische „Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen“ 1918 ausgerufen. Anders als die Bezeichnung zunächst nahelegt, waren auch Montenegro und Bosnien-Herzegowina Teil dieses Staates. Die heutige Republik Mazedonien gehörte seinerzeit zu Serbien.

Im Jahre 1929 wurde der Staat in das „Königreich Jugoslawien“ umbenannt. Erstmals fanden die slawischen Völker im Balkan zu einem eigenen souveränen Staat zusammen und befreiten sich von äußeren Einflussmächten. Das, was sie verband, weitgehend gemeinsame Sprache und Geschichte sowie die kulturelle Nähe bei allen kleineren Unterschieden im Einzelnen, wurde fortan auch staatlich institutionalisiert.

Allerdings wirkte sich der serbische Dominanzanspruch negativ auf den staatlichen Aufbau aus. Orientierten sich die Serben auf einen zentralistischen Staat mit einem serbischen Monarchen an der Spitze, so favorisierten die Kroaten und Slowenen eher eine föderale Staatsstruktur.

Anstatt diesen Widerspruch durch lange Verhandlungen und auch friedlichen Widerstand im Rahmen des gemeinsamen jugoslawischen Gesamtstaates zugunsten föderaler Strukturen aufzulösen, festigte er sich und wurde zur Zeitbombe der jugoslawischen Staatlichkeit. Anti-jugoslawistisch gestimmte nationalistische Gruppierungen erhielten Zulauf. Schlimmer noch: Die slawischen Volksgruppen orientierten sich an ihren früheren Besatzungsmächten.

Im Zweiten Weltkrieg wurde das Land kurzerhand von Nazi-Deutschland mit Zutun regionalnationalistischer Kräfte zerschlagen. Der inner-jugoslawische Brudermord sollte auch den Neustart Jugoslawiens unter Tito latent belasten.

Die Vorbehalte wurden in den späten 1980er-Jahren wieder geschürt. Wieder mit Brudermord und Zerstörung. Erneut fand die Zerschlagung Jugoslawiens 1991/92 in Anlehnung der jeweiligen nationalistischen Kräfte an „ihre Großmächte“ statt: Slowenische und kroatische Nationalisten suchten im Westen (Österreich, Deutschland und den USA) erfolgreich nach Unterstützung, die bosnischen Muslime sahen in der Türkei ihren Verbündeten, und die Serben sowie die jugoslawistischen Kräfte schauten nach Moskau.

Während der Staatsaufbau in Jugoslawien gelang, scheiterte der Aufbau einer nationalen jugoslawischen Identität im ersten Jugoslawien zunächst an der serbischen Dominanz und der Reaktion nationalistischer Kroaten. Im zweiten Jugoslawien, dem Tito-Jugoslawien, machte zwar das nation-building erhebliche Fortschritte, aber die Zeit von 1945 bis 1990 reichte offenbar nicht aus, die gemeinsame Identitätsbildung hin zu einer wirklichen jugoslawischen Nation unumkehrbar zu festigen.

Ein Schachbrett geopolitischer Interessen

Äußere Mächte unterstützten die Zerschlagung des jugoslawischen Staates bis hin zum völkerrechtswidrigen Nato-Angriffskrieg auf Rest-Jugoslawien, um nach dem Ende des Kalten Krieges auch in Südosteuropa ihren Einfluss (wieder)herzustellen.

Zwischen den Regionalnationalisten einerseits und Deutschland, den USA und der Türkei andererseits gab es eine Interessenübereinstimmung: Die Atomisierung des südslawischen Staates. Denn, der jugoslawische Staat war zwischen 1918 bis zu seiner ersten Zerschlagung 1941 und ab 1945 bis 1990 nicht nur formal, sondern auch politisch ein souveräner Staat. Ein Staat, der tatsächlich Subjekt und nicht Objekt der internationalen Politik gewesen ist.

Diesen Status, den genau genommen nur Großmächte für sich faktisch beanspruchen können, war der klugen Neutralitätspolitik der jugoslawischen Führung unter Tito zu verdanken. Titos Jugoslawien gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Organisation der „Bewegung der Blockfreien Staaten“.

Auch das heutige Serbien versucht durch eine Neutralitäts- und Schaukelpolitik zwischen dem Westen einerseits, Russland und China andererseits, seine Souveränität möglichst zu bewahren. Alle übrigen post-jugoslawischen Teilrepubliken haben sich bzw. wurden euro-atlantisch orientiert.

Forderung nach externen „Ordnungsmächten“

Dass Deutschland und die USA, so die Forderung des Autors M. Becirovic, als „Ordnungsmächte“ des Balkans nachdrücklicher auftreten und die Dominanz Serbiens brechen sollen, zeugt davon, dass das fatale paternalistische Denken, wonach externe Großmächte als Paten regional-ethnischer Entitäten und deren Partikularinteressen fungieren sollen, bis heute noch wirkt.

Solch ein Denkmuster bedeutet nichts anderes als die selbstverschuldete und freiwillige Unterwerfung bzw. Unmündigkeit aus Mangel an Mut, selbstbestimmt zu handeln. Man könnte es auch in Anlehnung an I. Kant als eine Absage an „Sapere aude“ („Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“) bezeichnen.

Die Möglichkeit, den West-Balkan zu reintegrieren, erscheint diesem paternalistischem Gedankenkonstrukt fremd. Der Gedanke, dass der postjugoslawische Raum und darüber hinaus der Balkanraum weder Westen noch Orient noch eindeutig Osten ist, sondern ein Phänomen sui generis, also eine eigene Kategorie bildend, wurde und wird weder politisch noch wissenschaftlich oder medial bei uns im Westen ernsthaft in Betracht gezogen.

Dabei verkörperte der jugoslawische Staat genau dieses Sui-generis-Phänomen. Kritiker des jugoslawischen Staates wenden ein, er sei gescheitert. Das ist richtig. Er ist an internen und externen Faktoren gescheitert, die ich oben ansatzweise ausgeführt habe.

Aber auch die westlichen Staatsprojekte Bosnien-Herzegowina und das Kosovo sind faktisch gescheitert – sie werden künstlich am Leben erhalten – mit westlichen Steuergeldern und militärischer Präsenz. Es sind westliche Protektorate.

Ein Neuanfang, ein politisch und wirtschaftlich integrierter Balkanraum, wie auch immer die Integrationsdichte aussehen mag, wäre eine Option, diese Ecke Europas zu stabilisieren. Für die EU wäre ein integrierter und stabiler (West)-Balkan einem atomisierten Balkan mit Rentierstaateneigenschaften vorzuziehen. Denn, die wirklichen Herausforderungen, wie die Klimakatastrophe und die damit verbundene Zerstörung ganzer Regionen auf der Welt, ist für Europa objektiv gesehen wichtiger, als fragwürde geopolitische Sandkastenspielchen zu pflegen.

Völkerrechtliche Einordnung

Und einmal von der politischen, historischen, wirtschaftlichen und kulturellen Argumentationsebene abgesehen, ist auf die Völkerrechtswidrigkeit der Forderung des Autors M. Becirovic hinzuweisen: Alle Staaten sind formal souverän gleich.

Die Beherrschung eines Staates oder einer Region durch eine externe „Ordnungsmacht“ oder eine „Besatzungsmacht“ verstößt gleich gegen mehrere Artikel der UN-Charta: Seine Forderungen marginalisieren erstens die Vereinten Nationen als primäre und zentrale internationale Regierungsorganisation bei der Konfliktlösung (Art. 1 Abs. 1 und 2) und setzen stattdessen Deutschland und die USA an die Stelle der Uno.

Zweitens verstößt M. Becirovics’ paternalistisches Machtverständnis gegen den Grundsatz der „souveränen Gleichheit“ der Staaten (Art. 2 Abs. 1), indem er Staaten als „Ordnungsmächte“ zur Regulierung „untergeordneter“ Staaten einfordert.

Drittens verstoßen seine Forderungen gegen das Androhungs- und Anwendungsverbot von Gewalt (Art 2, Abs. 4), denn eine „Ordnungsmacht“ ist nur dann eine „Ordnungsmacht“, wenn sie auch eine glaubhafte militärische Komponente im Instrumentenkasten aufweisen kann.

Fazit: Die Forderung nach einer externen „Ordnungsmacht“ auf dem Balkan ist aus politischen, historischen, wirtschaftlichen, kulturellen und völkerrechtlichen Gründen nicht nur abwegig, sondern frönt einem anachronistischen Denken. Es bringt die Menschen auf dem Balkan mittel- und langfristig nicht weiter, sondern hält sie in einer selbstverschuldeten Unmündigkeit gefangen.

Dr. Alexander S. Neu ist ehemaliges Mitglied des Verteidigungsausschusses (Obmann) und ehemaliges stellvertretendes Mitglied im Auswärtigen Ausschuss des Deutschen Bundestages. Zuvor sicherheitspolitischer Referent für die Partei Die Linke, 2000 bis 2002 und 2004 für die OSZE im ehemaligen Jugoslawien in diversen Verwendungen.

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