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Prostitution während der EM 2024: Zeigt die Freier (an)!

Viele Männer sind Freier. Unsere Autorin kennt allerdings kaum einen und findet: Das sollte sich ändern. Besonders vor der EM 2024.

Männer auf der Fanmeile in Berlin, 2018.
Männer auf der Fanmeile in Berlin, 2018.Jens Büttner/dpa

Laut einer deutsch-schwedischen Studie aus dem Jahr 2023 waren 26 Prozent der Männer in Deutschland einmal bei einer Prostituierten und 16 Prozent mehrmals. Hochgerechnet auf die deutsche Bevölkerung ist es eine achtstellige Zahl. Persönlich kenne ich kaum einen, der es zugibt – erstaunlich! Sogar im Paradiesland der legalisierten Prostitution sind Freier unsichtbar. Warum ist das so?

Mehrere Antworten kennt die 27-jährige Aktivistin Elly Arrow, die seit 2017 Freier in ihren Internetforen beobachtet. Deren Zitate sammelt sie auf X, Instagram und auf einer Website – unter dem Namen „Die Unsichtbaren Männer“. Warum wollen sie anonym bleiben?

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Weil ihre Frau oder Freundin nicht davon erfahren solle, sagt Arrow. Und außerdem, weil „die meisten von ihnen sich bewusst sind, die wesentlichen Akteure eines ausbeuterischen Systems zu sein“. Sie fürchten Konsequenzen.

Die Freier sehen Minderjährige im Bordell – und berichten später in ihren Foren vulgär und gut gelaunt von ihrer letzten Vergewaltigung dort. Inkognito als „Neubesamer“, „Boomstick“ oder „Spritzmaschine“ prahlen und höhnen sie ungefiltert los. Den Menschenhandel und die Qualen der Frauen nehmen sie wahr – und schauen weg. So wie Arrows Zitate belegen die Studien der amerikanischen Psychologin Melissa Farley: Freier wissen, was sie tun.

Welchen psychischen Schaden sie bei Frauen anrichten, beschreibt der Sammelband „Sexkauf“, herausgegeben von der Sozialwissenschaftlerin Elke Mack und dem Juristen Ulrich Rommelfanger. Dort kann man unter anderem nachlesen, dass die Prostitution nur „durch psychische Dissoziation“ auszuhalten sei.

Zusätzlich zur psychischen Traumatisierung erwähnt die Gynäkologin Liane Bissinger im selben Buch: „Kahle Kopfhautstellen durch ausgerissene Haare; chronische Magen-Darm-Entzündungen auch aus Ekel vor erzwungenem Spermaschlucken. Entzündete Kiefergelenke durch zu lange Überdehnung des Gelenks beim Oralverkehr“. Hinzu kommen Syphilis, Hepatitis und HIV.

Es fällt mir doch ein Freier ein, den ich kannte. Er erzählte, er sei mal ins kleine Bordell um die Ecke gegangen. Seine damalige Freundin hatte ihn betrogen. Er musste seine Wut abreagieren. Und „die Netti, sie war nett“, spottete er. Das Ganze – insbesondere seinen derben Unterton verdrängte ich. Für die Abgründe vom Sexkauf war ich noch nicht sensibilisiert. Heute frage ich mich, wie häufig er noch hinging.

Von aktuellen Gesprächen mit ihrem Ex-Freund berichtete mir eine Nachbarin. Er sei sicher, er wähle nur Prostituierte, die Spaß hätten. Sie hoffe immer noch, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. „Ist das der, der oder der?“, frage ich mich, wenn sie mich zu Partys einlädt.

Die Kurfürstenstraße ist ein Ort, an dem auch Straßenprostitution ein Thema ist.
Die Kurfürstenstraße ist ein Ort, an dem auch Straßenprostitution ein Thema ist.Rolf Kremming/imago

Abschreckend: Veröffentlichung von Namen in Sexualstraftäter-Liste

Direkt frage ich heute niemanden mehr. Früher tat ich es und erntete verlegenes Schweigen oder lautes Abschwören: „Niemals würde ich so was tun!“.

Die meisten Freier scheuen das Rampenlicht, obwohl sie laut deutschem Gesetz nichts Verbotenes tun – es sei denn, sie beuten bewusst ein Opfer von Menschenhandel aus, was allerdings kaum zu beweisen ist. Anders ist es in acht Ländern, in denen das Nordische Modell gilt: Schweden, Norwegen, Island, Kanada, Nordirland, Frankreich, Irland und Israel.

In Frankreich riskieren Freier seit 2016 Geldbußen – in erschwerten Fällen Haftstrafen – oder die Verpflichtung zu einem Sensibilisierungsworkshop. So ein Workshop lässt sie allerdings weniger zittern als ein gelber Brief mit Strafbefehl im Briefkasten der Familie. Die amerikanische Psychologin Melissa Farley hat die Abschreckungswirkung verschiedener Maßnahmen untersucht. Am erschreckendsten fänden die Männer laut ihrer Studien die Veröffentlichung ihres Namens in einer Liste von Sexualstraftätern.

Freier Während eines Sensibilisierungsworkshops in Frankreich.
Freier Während eines Sensibilisierungsworkshops in Frankreich.Olivier Desaleux

Anonymität ist der Grundpfeiler der sexuellen Ausbeutung. Als Frauen können wir nicht wissen, ob unser Mann, Liebhaber, Vater, Bruder, Nachbar, Arzt, Handwerker, Lieblingssänger, Politiker oder Sachbearbeiter sich hinter „AhmetVan“, „MischkaBär“ oder „DerFlo“ in Freierforen verbergen. Prostituierte wissen es. Was für ein Glück haben Freier, dass sie so schweigsam sind – oder sein müssen.

Warum aber sind auch Nicht-Freier so leise? Warum gibt es keine Dating-Apps mit der Profil-Option „Ich bin kein Freier“? Oder eine Fifa-Kampagne „Sei kein Freier“. Eine gute Idee, wie die ehemalige Fifa-Mitarbeiterin Regina Springer (Name geändert) findet. Bei der Fußball-WM 2006 fiel sie „aus allen Wolken“: „Es war völlig normal, dass es Prostituierte gab. Zahlreiche Offizielle bestellten sich Frauen.“ Das bekam Springer über Fahrdienste oder Sicherheitsleute mit.

Fürchten sich Männer vor dem Verrat am eigenen Geschlecht?

Auf der Busreise der Fans seiner Heimatstadt zu Pariser Rugby-Spielen im Parc des Princes staunte der Franzose François Roques als Teenager über die lange Pause im Bois de Boulogne, wo die Prostituierten standen. Heute leitet Roques Sensibilisierungsworkshops für Freier im Auftrag des französischen Justizministeriums. Er ist einer der wenigen Männer, der auch über das Verhalten von Freiern redet, die er persönlich kennt. Auch ein Nicht-Freier hört mal, was Freier so tun – meistens bleibt das aber geheim. Fürchten sich Männer vor dem Verrat am eigenen Geschlecht?

Bei internationalen Sport-Events der Herren boomt der Sexkauf. Im März 2006 wies das Europäische Parlament auf einen „spektakulären, befristeten Anstieg der Nachfrage nach sexuellen Dienstleistungen“ bei jeder großen Sportveranstaltung hin.

Offenbar floriert die Prostitution, wenn männliche Fans weit weg von zu Hause sind. In Zeiten erhöhter Nachfrage durch Sportfans wird das Angebot noch knapper. Daher müssen mehr Frauen beschafft beziehungsweise gezwungen werden.

Zahlen sind schwer zu erfassen und schwanken teils stark: Laut Experten befinden sich zwischen 50 und 90 Prozent der Frauen nicht freiwillig in der Prostitution, auch dort, wo es auf den ersten Blick nicht so aussieht oder als legal gilt. Die ganze Sex-Branche liegt im Dunkelbereich. Ein bequemer Sichtschutz für Freier.

Die Kampagne #RoteKartefürFreier
Die Kampagne #RoteKartefürFreierBundesverband Nordisches Modell

Eine „Anstiegsgefahr der Prostitution und des Menschenhandels“ würden auch die Olympischen Spiele in Paris beinhalten, so die französische Ministerin für Geschlechtergleichheit, Aurore Bergé, im März 2024. Ihr Anti-Prostitution-Plan solle auch ausländische Freier informieren, welche Strafen sie in Frankreich riskieren. Mit Airbnb vereinbarten Bergé und die ehemalige Sportministerin Roxana Maracineanu Maßnahmen, um die Zuhälterei während der Olympischen Spiele in den Unterkünften zu unterbinden.

Kampagne zur EM: „Rote Karte für Freier“

„Für eine EM ohne Sexkauf“ wirbt die Kampagne #RoteKartefürFreier vom Bundesverband Nordisches Modell. Prostitution sei „kein Heimspiel“, weil sie die Notsituation von Frauen aus den ärmsten Ländern der Welt ausnutze. „Kein Event“, weil Frauen unter falschen Versprechungen geholt würden. „Kein Fairplay“, wegen „schwerer physischer und psychischer Gewalt“. Freier gehörten „ins Abseits“. Unter dem Hashtag kann man das eigene Foto mit der Karte posten.

Bei der Fußball-EM 2016 hatte die französische Regierung eine ähnliche Kampagne gestartet. Auf Straßenplakaten schauten selbstbewusste Frauen vorwurfsvoll in die Kamera – mit dem Spruch: „Der Preis des Sexkaufs ist ein anderer, als du denkst“. Im Fokus stand der weibliche Blick auf die Zerstörungskraft der Freier – anstatt der männliche Blick auf halb nackte Frauen in Strapsen und High Heels mit lächelnder Fassade.

Perspektivwechsel: Die Sexkäufer ins Zentrum rücken

Den 180-Grad-Kameraschwenk hin zu den Sexkäufern schaffen die Pressebilder meistens nicht. Anders die Fotos des französischen Fotografen Olivier Desaleux, der mich 2022 bei einer Reportage über einen Freier-Workshop begleitete. Hier sieht man den Rücken von fünf Sexkäufern, sitzend in einem kahlen Raum. Oder Details ihrer Körper: Fingernägel, angespannte Muskeln, nervöse Hände. Auch Schuhe, Hosen, Hemden. Ganz normale Männer, aus allen sozialen Schichten und in jedem Alter. Genauso beschreiben sie auch alle Aussteigerinnen.

Ein Blick-Wechsel gelang auch dem Tagesspiegel Ende 2023 in einem Beitrag von Sebastian Leber. Die Bilder waren Screenshots von Freierforen – gestochen scharfe Einblicke in eine gewaltvolle Welt.

Ein Bild vom Freier-Workshop.
Ein Bild vom Freier-Workshop.Olivier Desaleux

Und dann kommt es – in seltenen Fällen – doch auch vor, dass Freier „Gesicht zeigen“. Dazu gehört eine Gruppe französischer Männer, die sich selbst als „343 Schweinehunde“ bezeichneten. Im Jahr 2013 forderten sie im rechten Magazin Causeur: „Hände weg von meiner Hure“. Sie wollten das französische Sexkaufverbot verhindern, das damals diskutiert (und 2016 verabschiedet) wurde. Zu den Erstunterzeichnern gehörte auch der rechtsextreme ehemalige französische Präsidentschaftskandidat Eric Zemmour. Ein Student und eine Studentin, die sich für ein Sexkaufverbot einsetzten, benannte die Männer daraufhin in „343 Arschlöcher“ um und porträtierte sie auf einer eigenen Seite mit der Aufforderung, ihnen per Twitter ein „liebes Wort“ zu schicken. Unter manchen Bildern steht: „Reumütig. Wer ist der Nächste?“

Weniger aufgeladen, aber dennoch eindrücklich gelang es in Deutschland der Fotografin Bettina Flitner Freier zu porträtieren. Sie fotografierte und interviewte Christian, Igor und andere oberkörperfrei. Sie sitzen in einem Stuttgarter Großbordell, das inzwischen wegen Menschenhandels geschlossen ist.

Solche Momente unverstellter Offenheit sind äußerst rar. Meist wollen die Sexkäufer im Schatten bleiben und man lässt sie auch. Es wirkt wie eine lange überlieferte Omertà. Die anstehende EM ist eine gute Gelegenheit, das Schweigekartell zu zerschlagen: Zeigt die Freier – und falls möglich: Zeigt sie an!

Geneviève Hesse ist Wahlberlinerin und freie Journalistin. Seit zehn Jahren schreibt sie über Prostitution in verschiedenen Printmedien europaweit.

Das ist ein Beitrag, der im Rahmen unserer Open-Source-Initiative eingereicht wurde. Mit Open Source gibt der Berliner Verlag allen Interessierten die Möglichkeit, Texte mit inhaltlicher Relevanz und professionellen Qualitätsstandards anzubieten. Ausgewählte Beiträge werden veröffentlicht und honoriert.

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