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Ob Boskop oder Goldparmäne: Lasst uns einen Apfelbaum für den Frieden pflanzen

Unter welcher Flagge sie lebte, war der Großmutter unseres Autors völlig egal – „solange ich meine Äpfel ernten konnte“. Ist dieses Weltbild verloren gegangen?

Historische Aufnahme eines Jungen beim Ernten eines Apfels aus dem Jahr 1937
Historische Aufnahme eines Jungen beim Ernten eines Apfels aus dem Jahr 1937United Archives International/imago

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Meine Schule hatte noch einen Apfelbaum. Logische Symbolik beim Namensgeber: Dietrich Bonhoeffer, der Theologe, den die Nazis hingerichtet haben und der heute gern hergenommen wird von kriegerischen Politikern mit seiner Überlegung, ob es legitim wäre, einem Geisterfahrer ins Volant zu greifen, also einen Menschen, der andere gefährdet, auszuschalten.

Diese Diskussion hat mich mein Lebtag begleitet, mit Schuld und Sühne in Rom, mit Erwin Teufel in Delhi, während meiner Zeit als Berater hoher indischer und chinesischer Stellen, unzählige Male am Dizengoff und in Tiefgaragen nahe dem Gazastreifen, dort im Brüllton und dann, am ehrlichsten, mit meiner Tochter, die ich großziehen durfte.

Ich war nie sicher, ob Bonhoeffer sich sicher gewesen war. Und ich war nie sicher, ob man sich selbst jemals sicher sein könnte. Das Richten, die ultimative Erhöhung über den anderen, dazu muss man geboren sein. Ich bin es nicht. Mir fehlt der innere Raskolnikow, der innere Napoleon oder auch einfach nur Verständnis für Robert Habeck und Friedrich Merz.

Habeck und Merz im Jahr 2022
Habeck und Merz im Jahr 2022Bernd von Jutrczenka/dpa

Aber mit Bonhoeffers Spruch, er würde auch an dem Tag, von dem er wüsste, es sei sein allerletzter, noch ein Apfelbäumchen pflanzen, war ich einig! Das Leben geht für alle gleich aus, das Ende ist – alter Lateiner mit Marc Aurel im Kopf – in seiner zeitlichen Fügung irrelevant. Relevant ist maximal, was ich an Gutem zu hinterlassen hoffe. Auch – oder vor allem – wenn ich selbst nie dazu komme, die Frucht zu ernten.

„War mir völlig gleich, solange ich meine Äpfel ernten konnte“, sagte mir meine Großmutter, in deren Haus ich seit früher Jugend wohnte und noch lang vor der Volljährigkeit meinen Betrieb gründen durfte. Meine Großmutter, hohenlohische Landfrau, Dienstmagd, tiefgläubig, ging nie in die Kirche und schon gar nicht zum Arzt. Sie ließ sich nicht sagen, was gut sein sollte. Das machte sie selbst ab. Sie lebte 96 Jahre, zog drei Kinder groß, zwei im Krieg und eins in den unmittelbaren Nachkriegsjahren.

Über die Zeit des Krieges hat sie nicht viel gesprochen. Klar machte sie nur ihren Ärger darüber, dass man jemandem wehtut und „das, was er so hart aufgebaut hat, für nichts zusammenhaut“. Sie hat viel verloren, vier Brüder, auch ihren Zwilling, der zuallerletzt doch noch gefallen war. Das Kriegsleid machte, dass sie fortan im Moment lebte, sich nie am Großen aufhielt, am Geschwätz der Regierung, dem Geplapper des Pfarrers, der zu ihr kam und sich ein „Wenn du hochkommst, gehe ich freiwillig nach unten“ einfing, wenn er im Namen Gottes sprach.

Wichtig waren ihr die Äpfel, bei denen ihr gleich war, in welcher Besatzungszone sie nach Kriegsende wuchsen: Boskop, Jonathan und andere Sorten, die ich längst vergessen habe. Sie fuhr die Ernte noch weit über 80 mit mir und dem Leiterwagen nach Hause und füllte sie in Holzkisten, die sie in ihren Gewölbekeller trug.

Dorfszene in Nachkriegsdeutschland, 1947
Dorfszene in Nachkriegsdeutschland, 1947Erich Andres/imago

„Jeder Regent will nur dein Geld, mir war’s gleich, wer er war“

Als ich in der Schule lernte, welche Mächte den Wohnort meiner Großmutter seit 1911, ihrem Geburtsjahr, beherrschten, konnte ich mir kaum vorstellen, wie sich das angefühlt haben mochte. Nachdem ich meine Großmutter erlebt hatte, wie sie einem Stadtangestellten ihre Unterschrift verweigerte, war ich sicher, sie habe zumindest Kirschkernchen auf französische oder britische Besatzer gespuckt, wenigstens aber auf die Amerikaner. Nur um festzustellen, dass ihr vollkommen gleich war, wer meinte, sie zu beherrschen. „Jeder Regent will nur dein Geld, davon lebt er wie jede Laus im Pelz. Wenn es ungefähr gleich viel war, was der neue wollte, war mir ungefähr gleich, wer er war. Hauptsache, er hat mir nicht alles kaputt gemacht.“ Meine Großmutter wäre niemals drauf gekommen, ihren Stolz an dem festzumachen, der bei ihr Steuern eintrieb.

Als ich die Geschichte einer ukrainischen Freundin erzählte, fing sie an zu weinen. Sie hat Angst davor, in ihrem Leben keinen Apfelbaum mehr vorzufinden in ihrer Heimat, Charkiw. Ihre Wohnung, vier Meter hohe Räume nahe dem Zentrum, neben der Universität, wurde gestern Nacht von einer Bombe getroffen. Und sie war noch so erleichtert, weil sie darauf hoffte, dass mit Donald Trump endlich ein Ende einkehrt in die Zerstörungswut. Sie malt, hat in Kiew Kunst studiert. Sie sagte mir noch, ihr sei auch egal, wem ihre Stadt gehöre, solange sie in ihrer Wohnung malen darf. Der Apfelbaum meiner Großmutter ist wohl ihre Leinwand und ihr Pinsel.

Vor kurzem hatten wir gemeinsam eine nächtelange Diskussion, zugegen war auch ein alter Freund meinerseits. Früher führender Mitarbeiter chinesischer Zugwerke, der mit seiner Frau Tübingen besuchte und in einer einfachen Ferienwohnung auf dem Land wohnte, die ich ihm besorgt hatte, mit noch einfacheren Gastgebern, die sie sehr ins Herz schlossen und ihnen Äpfel mitgaben aus dem Garten. Ich glaube auch, dass das der Impuls war für meine Erinnerung.

Ein Haus in Charkiw ist durch russischen Beschuss in Brand geraten.
Ein Haus in Charkiw ist durch russischen Beschuss in Brand geraten.ukrinform/dpa

Ich wollte von ihm wissen, was wohl die Chinesen getan hätten, wären sie von Russland überfallen worden. „Vermutlich dasselbe wie bei den Mongolen. Wir haben sie 200 Jahre ausgehalten, ihnen Steuern gezahlt, statt uns von ihnen hinrichten zu lassen, was sie eigentlich vorhatten, und darauf gewartet, dass irgendetwas sie schwächt und sie wieder gehen.“

Weil ich in Fahrt war, sandte ich eine WhatsApp-Nachricht zu meinem ältesten indischen Freund, rechte Hand eines mächtigen Mannes des Landes, für den ich noch 2008 in Peking und Qingdao die Tickets der Olympischen Sommerspiele organisiert hatte. Er verwies in der Antwort auf Gandhi und seine Überzeugung, ein Land nur befreien zu können, wenn man die Gier besiege, auch die Gier am Besitz des eigenen Landes. Nun gut, dazu muss man Brahman sein und dessen unendliche Güte haben. Oder eben Inder, der sich erinnert, wie Gandhi sein Land von britischer Besatzung befreite.

„Die da oben“ wollen nicht helfen

Immer wenn ich mit meinem alten Landrover übers Land fahre und Leuten zusehe bei der Feldarbeit, denke ich an Oskar Lafontaines Satz, kein amerikanischer Farmer suchte in seinem Leben Streit mit einem russischen oder irgendeinem anderen. Warum sollte er auch?

Wer mutig ist und in Landkneipen geht, merkt rasch, dass Leute, die den ganzen Tag an der frischen Luft sind, in aller Regel recht klare Gedanken fassen. Darunter ist auch der, dass „die da oben alle gleich“ sind und vor allem eines nicht im Sinn haben, nämlich „uns zu helfen“. Ronald Reagan hat darüber noch stundenlange Reden geführt. Der einfache Verkäufer und spätere Cowboy-Darsteller, für den die gefährlichste Lüge der Welt war: „Ich komme von der Regierung und bin da, um dir zu helfen.“

Hätte Erwin Teufel, mit dem ich ganz jung noch nach Indien reisen durfte, den Kampfstier Taurus in die Ukraine geschickt, wie Habeck und Merz das wollen, die beiden Kanzlerkandidaten? Ich glaube, der letzte Politiker, der nach seinem Amt noch auf einer einfachen Stube Philosophie studierte, hätte eher einen Apfelbaum ausgesucht.

Die müssen in Berlin furchtbar aus der Mode sein. Und so wird also keiner gepflanzt, kein Ölzweig getragen, keine weiße Fahne gehisst, die man zum Tischtuch machen kann, später, wenn wieder Apfelkuchen gebacken wird. So sitzen unsere Politiker an Küchentischen ohne weißes Tuch und faseln von Dingen, die ganz irrelevant sind, wenn es weitergeht mit diesem Krieg.

Ronald und Nancy Reagan im Jahr 1986
Ronald und Nancy Reagan im Jahr 1986ZUMA Press/imago

Ich glaube nicht, dass Merz oder Habeck meiner Tochter, mir oder irgendeinem Menschen auf der Welt, auch in der Ukraine, helfen wollen, wenn sie Taurus senden. Kriege kann man in einer Sekunde beenden, das ist ein jahrhundertealtes, ziemlich globales Instrument: Man hisst eine weiße Fahne. Ich habe jene, die das in der Geschichte getan haben, nie für dumm oder feige gehalten. Die meisten Historiker, sofern ich mich erinnere, auch nicht. Warum auch?

Mein Eindruck ist, dass es bei „uns im Westen“ furchtbar aggressive Politiker gibt, die den Ukrainern regelrecht untersagen, aufzugeben. Die das zu einem historischen Kniefall, einem Irrsinn erklären. Mit großen Worten erklärt man, wofür die Ukraine ihre jungen Soldaten opfern soll. Erst wurde unsere Freiheit in Afghanistan verteidigt, jetzt im Donbass. Beide Male ist das gleich gelogen. Und beide Male zahlen andere mit ihren Leben unsere Zeche.

Sind wir ein echter Freund der Ukraine, wenn wir ihr das Aufgeben verunmöglichen, sie immer weiter einpeitschen, verantwortlich machen, im Grunde sogar verpflichten? Wo ist der Wert des Menschen, des Einzelnen, den Joan Baez und Donovan besangen? Geht es uns wirklich um die Menschen dort?

Das kann nicht sein, bei dem Trommelwirbel, den wir veranstalten, dem Anheizen jeden Tag! Ist der Gedanke so wild, es wäre besser, die Ukrainerin Julia, 84, im Donbass alleinlebend mit ihrer schwarzen Katze, dürfte am Leben bleiben in einem kleinen kohleofenbeheizten Haus, vor dem vier alte Apfelbäume stehen, die allesamt nichts davon wissen, dass sie dann russisch besetzt sind?

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Einer muss anfangen, damit aufzuhören. Ich wurde so erzogen, dass dies im Konflikt durchaus der Klügere von beiden tut. Aber auch das ist wurst. Jetzt wäre einfach Zeit. Damit man im Frühjahr Samen in die Erde pflanzen kann, die uns doch irgendwie allen gleich gehört, und nicht immer noch mehr zerfetzte Soldatenleiber, die nie mehr den Apfelkuchen ihrer Großmütter und Mütter essen können, weil irgendeiner da oben einfach ums sprichwörtliche Verrecken nicht endlich die weiße Fahne rausgeholt, das Handtuch geworfen hat.

Daniel Schweizer bekam vor Volljährigkeit die Genehmigung, eine Firma zu gründen, arbeitete mehr als 20 Jahre als Unternehmer in Asien und schreibt gerade in einer Blockhütte in einem Dorf in Süddeutschland an einem Buch.

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