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Professorin im Westjordanland: Aktueller Gaza-Krieg Teil „einer größeren Strategie“

Deutschland zahlt wieder Hilfsgelder an das umstrittene UN-Palästinenserhilfswerk. Doch der Streit um die Deutungshoheit im Gaza-Krieg geht weiter.

Ein Lehrer in Rafah unterrichtet Kinder.
Ein Lehrer in Rafah unterrichtet Kinder.AFP

In einem Beitrag des Wall Street Journal am 29. Januar 2024 wurde behauptet, zwölf Mitarbeiter der UNRWA (United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East) seien an den grausamen Angriffen und Massenexekutionen vom 7. Oktober beteiligt gewesen. Die Informationen stammten aus einem Geheimdienstdossier der israelischen Regierung. Daraufhin stellten Deutschland und andere Geldgeber wie die Vereinigten Staaten, das Vereinigte Königreich und die Niederlande die Finanzierung der UNRWA in den palästinensischen Gebieten ein.

In den Wochen danach kamen Zweifel am Wahrheitsgehalt der Vorwürfe auf. Dem britischen Channel 4 zufolge gab es in dem sechsseitigen Dossier keine konkreten Beweise für die Anschuldigungen – lediglich die Behauptung der israelischen Regierung, Terroristen und Hamas-Sympathisanten in den UNWRA-Rängen mittels „nachrichtendienstlicher Informationen, Dokumente und Ausweise, die während der Kämpfe beschlagnahmt wurden“, identifiziert zu haben.

Am 22. April kam eine interne UN-Untersuchung des OIOS (Office for Internal Oversight) unter Leitung der ehemaligen französischen Außenministerin Catherine Colonna zu dem Schluss, die israelischen Behörden hätten trotz wiederholter Nachfragen „bisher keine unterstützenden Beweise“ für die Anschuldigungen vorgelegt. Nach der Veröffentlichung dieser internen Untersuchung kündigte die Bundesregierung an, die Finanzierung von UNWRA in den palästinensischen Gebieten wieder aufzunehmen.

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In einem Bericht der UNWRA, der angeblich CNN vorliegt, wird berichtet, Mitarbeiter der Organisation seien in israelischer Gefangenschaft gefoltert und sexuell missbraucht worden. Auf die Weise hätten Geständnisse ihrer Beteiligung an den Attacken vom 7. Oktober erzwungen werden sollen. Obwohl CNN nicht alle im UNRWA-Bericht aufgeführten Missbrauchsberichte unabhängig verifizieren konnte, wird in dem Bericht betont, der Sender habe zuvor ähnliche Vorwürfe des Missbrauchs palästinensischer Gefangener dokumentiert.

Medienberichten zufolge hat das israelische Militär bereits 2009, 2014 und 2015 UN-Einrichtungen bombardiert; angeblich greift es auch im gegenwärtigen Krieg wiederholt Einrichtungen der humanitären Hilfe an.

Streit um die Opferzahlen in Gaza

Laut der NGO Oxfam ist der Gaza-Krieg 2023/24 gemessen an der täglichen Todesrate der bislang tödlichste des 21. Jahrhunderts; nach Aussagen der Weltgesundheitsorganisation von Anfang November stirbt bei der Auseinandersetzung alle zehn Minuten ein Kind. Die hohe Zahl der Todesopfer wird bisweilen, insbesondere in Deutschland, infrage gestellt, da sie von Behörden in den von der Hamas beherrschten Gebieten stammt. Allerdings haben sich die Opfermeldungen der palästinensischen Behörden bei vorherigen Konflikten größtenteils als korrekt erwiesen.

Eine Mitarbeiterin der Biden-Administration erklärte vor dem US-Repräsentantenhaus Anfang November 2023, die Opferzahlen könnten noch höher liegen als vom Gesundheitsministerium im Gazastreifen kalkuliert. Auch der US-amerikanische Sender NPR geht davon aus, dass die realen Zahlen höher sind. Angriffe auf Krankenhäuser, Stromausfälle und spontane Beerdigungen erschwerten das Zählen der Toten, zudem würden verschüttete Palästinenser meist nicht mitgerechnet.

Anlässlich des Angriffs auf Mitarbeiter des NGO World Central Kitchen ließ US-Präsident Biden durchblicken, die Unterstützung der USA könnte untersagt werden, wenn Israel nicht verstärkt zivile Todesopfer vermeide und weiterhin keine humanitäre Hilfe in den Gazastreifen zulasse. Der Angriff, den der Gründer der Organisation als „vorsätzlich“ beschrieb, umfasste den Abschuss von drei Raketen gegen einen Hilfskonvoi aus drei Fahrzeugen; der Einsatz des Konvois war zudem mit dem israelischen Militär koordiniert worden.

Während der Kämpfe wurden wiederholt Hilfsorganisationen zum Ziel israelischer Angriffe. So soll die israelische Armee nach der belgischen Ankündigung, die UNRWA weiterhin zu finanzieren, das Gebäude der belgischen Entwicklungsbehörde im nördlichen Gaza bombardiert haben. Daraufhin bestellte die belgische Regierung den israelischen Botschafter ein.

Medienberichten zufolge griff die israelische Armee vom Ausbruch des Krieges bis Mitte April 350 humanitäre Konvois und Einrichtungen an. Dabei sollen mindestens 216 vor allem lokale Mitarbeiter ums Leben gekommen sein. Das entspricht einer Todesrate unter humanitären Hilfskräften, die dreimal so hoch ist wie in allen anderen Konflikt in der Zeitspanne eines Jahres. Der Generalsekretär von Ärzte ohne Grenzen, Christopher Lockyear, kommentiert: „Wir sagen das jetzt seit Wochen – dieses Muster von Angriffen ist entweder absichtlich oder ein Zeichen von rücksichtsloser Inkompetenz.“

Fatale Folgen ausbleibender Hilfsgelder

Die Entscheidung der Geldgeber, UNWRA nicht mehr zu finanzieren, beschäftigt auch den Deutschen Matthias Schmale, der von 2017 bis 2021 als UNWRA-Direktor im Gazastreifen gearbeitet hat. In seinem letzten Dienstjahr, nachdem die Hamas ihm Parteilichkeit für Israel vorwarf und nicht mehr für seine Sicherheit garantierte wollte, wurde er abgezogen. Elf Tage vor Bekanntgabe der internen UN-Untersuchung sagte er, „mit einer endgültigen Bewertung der Anschuldigungen“ werde er warten. Er teilte jedoch die Zweifel hinsichtlich des israelischen Dossiers, aufgrund dessen die Geldgeber die Mittel gestrichen hatten. Der israelische Staat habe „bisher der Uno-Führung inklusive UNRWA direkt keine schlüssigen Beweise zukommen lassen“.

Schmale weiter: „Nach meiner eigenen jahrelangen Erfahrung im Gazastreifen gehe ich davon aus, dass im schlimmsten Fall nur einer sehr kleinen Anzahl von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der UNRWA die Teilnahme an den Verbrechen des 7. Oktobers nachgewiesen werden kann.“ Er spricht von „maximal 13 von 13.000“.

Auch Schmale fürchtet die Konsequenzen der ausbleibenden Gelder. Ohne die UNRWA sei „die notwendige massive humanitäre Nothilfe vor Ort in Gaza nicht zu leisten“. Zum Beispiel werde seit sechs Monaten über 280.000 Kindern der Zugang zu Schulen und damit Perspektiven für eine bessere Zukunft verwehrt. Im Interesse der Gerechtigkeit sei es notwendig und richtig, UNRWA weiter zu finanzieren, „bis es eine akzeptierte politische Lösung gibt“.

Die Professorin für Diplomatie und Konfliktlösung an der Arab American University im Westjordanland und Kolumnistin bei der Al-Quds-Zeitung, Dalal Iriqat, kritisiert, dass die Geldgeber die Fördermittel abgezogen hätten, „bevor eine ordnungsgemäße Untersuchung“ stattgefunden habe. In der Vergangenheit habe sie erlebt, wie palästinensische Organisationen als terroristisch eingestuft worden seien, wenn sie das israelische Vorgehen anprangerten. Sie hat „den Eindruck, dass, wenn wir unsere Befreiung fordern, die westliche Öffentlichkeit denkt, dass wir die Zerstörung Israels fordern“.

Es gehe „nicht gegen das jüdische Volk“, so Iriqat, „wir fordern palästinensische Rechte und Freiheit“. Den aktuellen Krieg sieht sie als Teil „einer größeren Strategie, als einen Weg, die Aussichten auf die Verwirklichung der Rechte der Palästinenser zu beseitigen“. Es wäre „großartig, die Probleme der palästinensischen Flüchtlinge dauerhaft zu lösen, anstatt nur eine Organisation zu haben, die Hilfe für Flüchtlinge leistet“ und diese wiederum von internationalen Organisationen abhängig mache. Zugleich betont sie, dass die „Palästinenser das Vertrauen in die internationale Gemeinschaft verloren haben. Die Palästinenser haben das Vertrauen in die Diplomatie verloren. Sie haben das Vertrauen in das Völkerrecht verloren“.

Wiederaufnahme der UNWRA-Finanzierung als Hoffnungsschimmer

Eine junge Ärztin sieht täglich die Auswirkungen der humanitären Krise. Sie behandelt mindestens 150 Patienten pro Tag. Viele der Untersuchungen finden in ehemaligen, von UNWRA betriebenen Schulen statt, in denen vertriebene Palästinenser leben. Im Interview sagt sie: „Als einige der Geberländer die UNWRA-Finanzierung wieder aufnahmen, war das für viele in Gaza wie ein Schimmer der Hoffnung.“

Ein Universitätsdozent, der im Westjordanland arbeitet und anonym bleiben möchte, wies bereits im Dezember darauf hin, dass ein „Desaster im Gazastreifen“ und ein „wirtschaftlicher Zusammenbruch im Westjordanland“ bevorstünden. Er äußerte die Hoffnung auf Frieden in der Region: „Die israelischen und palästinensischen Menschen wünschen sich Ruhe und Stabilität.“ Mit Blick auf die deutsche Geschichte sagte er, die Deutschen verstünden die Auswirkungen des Krieges auf die Menschen. Im „Interesse der Menschlichkeit“ müsse Deutschland das palästinensische Volk unterstützen.

Jonas Ecke berät humanitäre Hilfsorganisationen. Im Jahr 2022 unterstützte er eine Organisation im Jemen, die sich in Krisengebieten dem Kampf gegen Krankheiten wie Malaria und Denguefieber widmete. Davor sammelte der promovierte Anthropologe Erfahrungen in Liberia, Ghana und dem Südsudan.

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