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Zwischen zwei Welten: Wer bin ich, wenn ich auf der Flucht alles verloren habe?

Als Kind hat unsere Autorin zwei Kriege überlebt. Nach der Flucht in ein fremdes Land lernt sie, sich anzupassen. Was bleibt dann noch übrig von der eigenen Identität?

Krieg und Flucht prägen die Identität eines Menschen unwiderruflich. Ein Schutzwall gegen Beschuss in Sarajevo kurz nach Ende des Bosnienkriegs
Krieg und Flucht prägen die Identität eines Menschen unwiderruflich. Ein Schutzwall gegen Beschuss in Sarajevo kurz nach Ende des BosnienkriegsJürgen Eis/imago

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Du blickst auf die Nachrichten, erkennst die alten Muster – und stellst fest, dass Identität nach Flucht nicht endet, wenn man ankommt. Identität ist etwas, von dem alle reden, aber kaum jemand weiß, wie fragil sie wirklich ist.

Ich war acht Jahre alt, als der Krieg in Bosnien begann, und später kam der Kosovokrieg. Ich habe zwei Kriege überlebt, zweimal die Erfahrung gemacht, dass die Welt, wie man sie kennt, in einem Augenblick zerbricht. Danach beginnt ein anderes Leben – eines, in dem man lernt, sich immer wieder neu zu definieren, um zu überleben.

Ich wuchs auf zwischen muslimischer und orthodoxer Nachbarschaft, zwischen Feiertagen, die sich überlappten, und Sprachen, die ineinander übergingen. Für mich war Vielfalt nie Bedrohung, sondern Normalität – eine Bereicherung, die mir früh zeigte, dass Menschlichkeit mehr mit Begegnung als mit Herkunft zu tun hat.

Erst im Krieg lernte ich, dass diese Unterschiede, die uns einst reicher machten, plötzlich zu Grenzen wurden. Das war vielleicht der erste Identitätsbruch: zu sehen, wie etwas, das Zusammenhalt bedeutete, zur Trennung wurde. Und doch trage ich beides in mir – die Sehnsucht nach Zugehörigkeit und die Erfahrung, dass sie jederzeit zerfallen kann.

Flüchtlinge im Lager Kozari Potevi bei Zagreb, Kroatien, während des Bosnienkrieges. Flucht enthält auch die Erfahrung, dass Zugehörigkeit jederzeit zerfallen kann.
Flüchtlinge im Lager Kozari Potevi bei Zagreb, Kroatien, während des Bosnienkrieges. Flucht enthält auch die Erfahrung, dass Zugehörigkeit jederzeit zerfallen kann.Thomas Frey/imago

Identität ist das, was übrig bleibt

Flucht verändert nicht nur, wo man lebt. Sie verändert, wer man ist. Man kommt an in einem Land, das Frieden gewohnt ist, und merkt: Hier fängt ein stiller Kampf an. Ein Kampf um Sprache, um Akzeptanz, um ein Gesicht, das nicht immer erklären muss, woher es kommt. Die neue Umgebung will wissen, wer man ist – aber selten interessiert sie sich dafür, was man verloren hat, um hier zu sein.

Lange Zeit dachte ich, Identität sei etwas, das man wiederfindet – ein Zuhause, das man irgendwann zurückerobert. Heute weiß ich: Identität ist das, was bleibt, wenn alles andere verschwindet. Nach der Flucht trägt man zwei Wirklichkeiten in sich: die alte, die sich nie ganz schließt, und die neue, die man noch nicht bewohnt. Dazwischen liegt eine Leere, die man füllt mit Anpassung. Man lernt, unauffällig zu sein, fleißig, dankbar. Integration nennt man das. Aber Integration ist nicht Identität. Integration heißt oft: sich anpassen, bis man nicht mehr auffällt. Identität heißt: den Mut haben, nicht zu verschwinden.

In einer Welt, die auf Effizienz und Selbstoptimierung gebaut ist, verlernen viele Menschen, echt zu sein. Wir produzieren Rollen, Versionen, Profile – und verlieren uns zwischen ihnen. Menschen, die Flucht erlebt haben, kennen dieses Spiel von Anfang an: Man wird zur Übersetzung seiner selbst. Man wählt Wörter, die verstanden werden. Man lacht, wenn man sich erklären sollte. Man entschuldigt sich, ohne zu wissen, wofür. Es ist ein stilles Ringen um Zugehörigkeit, das kaum jemand sieht. Und vielleicht tragen wir alle eine Form davon in uns – dieses Bedürfnis, irgendwo hineinzupassen, auch wenn es uns innerlich trennt.

Die Bundesregierung hält trotz eines Gerichtsentscheids und deutlicher Kritik an ihrem verschärften Kurs in der Migrationspolitik fest. Ein Europa, das einst stolz auf seine Offenheit war, schottet sich ab.
Die Bundesregierung hält trotz eines Gerichtsentscheids und deutlicher Kritik an ihrem verschärften Kurs in der Migrationspolitik fest. Ein Europa, das einst stolz auf seine Offenheit war, schottet sich ab.Patrick Pleul/dpa

Europa verliert seine Seele

Ich lebe in einem Europa, das stolz auf seine Offenheit ist und gleichzeitig ängstlich auf alles Fremde reagiert. Wir reden über Integration, über Grenzen, über Zugehörigkeit, aber kaum über den Verlust, der hinter jeder Anpassung steht. Wir vergessen, dass Identität nicht in Anträgen entsteht, sondern in Beziehungen. In einem Blick, der dich sieht, ohne dich einzuordnen. In einem Satz, der nicht sofort korrigiert, wenn du suchst nach dem richtigen Wort. In einer Sprache, die Raum lässt für Stille.

Manchmal denke ich, Europa schützt seine Werte so sehr, dass es seine Seele verliert. Wir bauen Systeme, aber keine Nähe. Wir verwalten Frieden, aber leben ihn nicht. Wir reden von Freiheit, aber haben Angst vor Verletzlichkeit. Vielleicht liegt genau darin die neue Form von Unfreiheit: Wir dürfen alles sein – nur nicht wahrhaftig.

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Ich beobachte, wie viele Menschen funktionieren, ohne zu fühlen. Sie sind pünktlich, effizient, erfolgreich – aber nicht verbunden. Sie leben in Sicherheit und fühlen sich trotzdem bedroht. Vielleicht, weil Sicherheit nichts bedeutet, wenn man sich selbst darin verliert. Ich erkenne etwas davon in mir. In meiner Disziplin, in meinem Bedürfnis, alles unter Kontrolle zu haben, in meiner Vorsicht, niemandem zu nahe zu kommen. Das sind Spuren der Vergangenheit – aber auch Spiegel der Gegenwart.

Menschlichkeit wieder zu erlernen, nicht nur Frieden zu verwalten, anderen ihre Identität zuzugestehen, einfühlsam und verletzlich zu sein, wären relevante Aufgaben unserer Zeit, so unsere Autorin.
Menschlichkeit wieder zu erlernen, nicht nur Frieden zu verwalten, anderen ihre Identität zuzugestehen, einfühlsam und verletzlich zu sein, wären relevante Aufgaben unserer Zeit, so unsere Autorin.Jürgen Held/imago

Wir müssen lernen, wieder menschlich zu sein

Frieden, habe ich gelernt, ist kein Zustand. Er ist eine Haltung. Er beginnt dort, wo man bereit ist, sich zu zeigen – nicht nur mit dem, was glänzt, sondern mit dem, was wehtut. Identität nach Flucht ist kein abgeschlossenes Kapitel, sondern ein fortlaufendes Gespräch zwischen dem, was man war, und dem, was man werden will. Ich bin nicht mehr nur die, die gegangen ist. Ich bin auch die, die geblieben ist – in Erinnerungen, in Sprache, in den stillen Teilen von mir, die sich weigern, verloren zu gehen.

Europa spricht viel über Integration, über Zugehörigkeit, über Heimat, aber selten darüber, dass Identität kein politisches Projekt ist. Sie ist ein menschliches Bedürfnis. Wir brauchen sie, um uns in der Welt zu verorten – und doch verändert sie sich mit jeder Begegnung, mit jedem Verlust, mit jedem Versuch, neu anzufangen. Vielleicht ist das die eigentliche Aufgabe dieser Zeit: nicht nur Frieden zu verwalten, sondern Menschlichkeit wieder zu lernen. Zuzuhören, ohne zu urteilen. Zuzulassen, dass Identität nicht perfekt ist – sondern verletzlich, widersprüchlich, lebendig.

Ich weiß heute: Ich bin nicht mehr von dort. Aber ich bin auch nicht nur von hier. Ich bin aus all dem gemacht, was ich verloren, überlebt und wiedergefunden habe. Und vielleicht ist genau das – das ständige Werden – die ehrlichste Form von Identität.

Emina Huduti ist Autorin, Kolumnistin und Speakerin. Als Zeitzeugin des Bosnien- und Kosovokriegs schreibt sie über Identität, Resilienz und Menschlichkeit – über Integration, Vielfalt und das Ankommen zwischen den Welten.

Das ist ein Beitrag, der im Rahmen unserer Open-Source-Initiative eingereicht wurde. Mit Open Source gibt der Berliner Verlag allen Interessierten die Möglichkeit, Texte mit inhaltlicher Relevanz und professionellen Qualitätsstandards anzubieten. Ausgewählte Beiträge werden veröffentlicht und honoriert.

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