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Rami Abu Reda (49), Architekt, lebt mit seiner Frau und vier Kindern in einem Zelt im al-Mawasi-Camp, im Süden des Gazastreifens. Die Häuser, die Rami in seinem Beruf als Architekt in Gaza erbaut hatte, sind längst zerstört. Ebenso das eigene, und das davor, das bereits im Jahr 2014 zertrümmert wurde. Er besitzt noch alle Schlüssel, denn wie er sagt: „Ich hänge an Dingen.“
Über verlorene Dinge zu schreiben, hat Rami durch viele schlaflose Nächte des Krieges gebracht. Und mir, die ich schon haufenweise Schlüssel in meinem Leben verloren habe, aber noch nie ein Haus, die sich überdies kein Bild vor Ort machen kann von den Ereignissen in Gaza, halfen seine Schilderungen dabei, Gaza nicht nur im Format der Breaking News vor Augen zu haben, sondern den Krieg auch in seiner 732 Tage langen Alltäglichkeit zu erahnen. In den kleinen Winzigkeiten, die es nicht in die Schlagzeilen schaffen.

Jetzt ist der Krieg vorüber. Die Erleichterung muss groß sein, die Freude unfassbar. Rami schläft deshalb nicht besser, wie er mir mitteilt, zu viele Verluste. Da fiel mir sein Text über den Verlust eines Spiegels ein, ja sämtlicher Spiegel. Ihn hier zu teilen, bedeutet: Rami fragen, ob ihm das recht ist.
Die Antwort kam schnell: „Welchen Text?“ Ich antwortete: „Den Spiegel-Text!“
Er fand ihn nicht mehr. Auch dieser Text war ihm abhandengekommen. Wie das Tagebuch seiner Tochter, die Häuser … ich allerdings hatte diesen Text bewahrt:
„Angesichts der Abwesenheit von Spiegeln“
Eine schmerzliche Seltsamkeit:
Wir haben unsere Gesichter lange nicht gesehen!
Nicht, dass wir den Blick in den Spiegel vermeiden würden.
Vielmehr: der Spiegel selbst aus den Details unseres Alltags verschwunden.
Kein Badezimmer,
kein Spiegel über dem Waschbecken.
Kein Schlafzimmer mit Spiegelschrank.
Kein Hausflur mit Chiffonnier am Eingang, der „uns“ im Rahmen hält, willkommen heißt und dran erinnert, dass wir im Leben stehen.
In Zuge der permanenten Vertreibungen haben wir das Gesicht verloren,
Tage und Wochen damit verbracht, uns mit dem Wasser der Sehnsucht zu waschen, unseren Schweiß mit staubigen Lappen abzuwischen, unser Haar mit zittrigen Fingern statt mit einer Bürste zu kämmen.
Manchmal vergeht eine ganze Woche, bevor uns vielleicht ein kleiner Taschenspiegel aus einer vergessenen Falte eines Rucksacks in die Hände fällt,
Du kramst ihn schließlich hervor, um dich anzusehen – und bist schockiert.

Das Gesicht, das dich anstarrt, ist nicht das, das du kennst.
Die Bräune deiner Haut ist keine sonnengeküsste, eher eine trockene traurige Kruste.
Neue Fältchen sind entstanden, undercover, insgeheim.
Und die dunklen Ringe unter unseren Augen sehen aus wie die Schatten unserer müden Zelte.
Unsere Gesichtszüge haben sich verändert – als ob der Schmerz uns jeden Tag neu formt.
Wir starren uns an und fragen panisch: Was haben wir getan, um so zu enden?
Was ist das für ein Krieg, der uns sogar unser Aussehen raubt?
Wie wurden wir so? Nicht über die Jahre gealtert – sondern in Trauer.
Spiegel mögen angesichts des Krieges wie unnötiger Luxus erscheinen, aber in Wahrheit sind sie ein Bruchstück Heimat. Als wir unser Zuhause verließen, wussten wir nicht, dass wir auch die Verbindung zu uns selbst verlieren würden.
Und so leben wir jeden Tag, fremd angesichts des eigenen Ichs,
sehen es nur gelegentlich –
entdecken jedes Mal eine neue Grimasse,
ein neues Gesicht, das vom Leben verraten wurde,
das aber immer noch versucht zu lächeln.
Wir sind unseren Ichs fremd geworden, und unseren Spiegeln, wenn wir sie nicht längst verloren haben.

„Und: Möchtest du es veröffentlichen?“ Es dauerte, bis Rami antwortete: „Es kommt mir vor, als würde ich den Text zum ersten Mal lesen. Ich weiß nicht, warum ich jetzt weinen muss. Die Tage über habe ich gar nichts gefühlt. Ich sollte mich freuen, dass der Krieg vorbei ist, aber ich bin wie in Schockstarre … ja, veröffentliche ihn.“
„Hast du dich denn in letzter Zeit in einem Spiegel gesehen? Hat der Waffenstillstand etwas verändert?“
Er hatte immer noch keinen Spiegel, aber er sendete ein Selfie. Ein Mann mit Brille sah mir entgegen, verwundert, etwas verknittert. Mein Blick fiel auf die Brille auf seiner Nase und ich überlegte, ob nicht deren Gläser als Spiegel herhalten könnten.
Pling. Eine neue Nachricht. Rami hatte ein anderes Bild geschickt. Ein ähnliches Foto, aber älter, aufgenommen eine Woche vor dem 7. Oktober 2023. Er sieht propper aus, satter, mit einem ebenso verwunderten, aber sehr offenen Gesicht – und tadellos glattrasiert. Es zeigte ihn unantastbar und „in Form“.
„Bilder zählen nicht“, schrieb ich zurück. Und schlug ihm die Gläser der Brille vor.
„Ich sehe nichts!“, schrieb er zurück. „Absolut nichts. Der Krieg ist vorbei, wir sollten uns freuen. Aber ich fühle mich verlorener denn je.“
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