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In der Talkshow „Markus Lanz“ vom 15. Juli 2025 bezeichnete die Kandidatin für das Bundesverfassungsgericht Frauke Brosius-Gersdorf den Brückenschlag zur Praxis als wesentliche Aufgabe der Wissenschaft. Wie bei einem solchen Brückenschlag die Wissenschaft schnell unter die Räder gerät, belegen ihre Einlassungen zu Ungeimpften in der Corona-Pandemie.
In einer früheren Lanz-Sendung am 25. Juli 2024 hatte Brosius-Gersdorf betont, die Grundrechte des Grundgesetzes seien „alles subjektive Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat“. Dabei hatte sie wohl nicht mehr vor Augen, wie sie drei Jahre zuvor in der gemeinsam mit ihrem Ehemann Hubertus Gersdorf verfassten Stellungnahme „Allgemeine Impfpflicht gegen Covid-19-Virus verstößt nicht gegen die Verfassung“ aus dem im Grundgesetz niedergelegten Abwehrrecht auf körperliche Unversehrtheit gegenüber dem Staat eine staatliche Pflicht zur körperlichen Versehrung eines Teils der Bürger konstruierte.
Gleich zu Beginn ihrer Argumentation sprechen Brosius-Gersdorf und Gersdorf von einer „Schutzpflicht des Staates für die Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG“. Dieser lautet: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“ Die Begriffe Pflicht oder Schutzpflicht tauchen hier gar nicht auf. Wieso ein Abwehrrecht gegenüber dem Staat eine sogenannte Schutzpflicht des Staates darstellen soll, wird in dem Text nicht erklärt, sondern einfach gesetzt.

Auf ein wichtiges Paradoxon wird nicht eingegangen
Klar ist: Unmittelbar betroffen von einem Eingriff in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit wären in jedem Fall Ungeimpfte, denen der Staat zwangsweise eine Impfung mit der Nadel in den Arm verpasst. Auch Brosius-Gersdorf und Gersdorf konzedieren dies (mit ihren Worten), um dann aber sogleich zu schlussfolgern: „In der Abwägung tritt das Recht auf körperliche Unversehrtheit der nicht impfbereiten Menschen hinter der Schutzpflicht des Staates für das Leben und die Gesundheit der Geimpften (Schutz vor schweren Verläufen und Folgeschäden bei Impfdurchbrüchen) sowie für deren persönliche und berufliche Freiheit zurück.“
Das von den beiden ausgemachte Recht der Geimpften auf Schutz vor Infektion stellt sich jedoch nicht wie das Recht der Ungeimpften als unmittelbares Abwehrrecht gegenüber dem Staat dar, sondern allenfalls als mittelbares Abwehrrecht gegenüber Ungeimpften. Unmittelbar bedroht sind Geimpfte in diesem Kontext ja nur von dem Coronavirus, dem gegenüber man keine Rechte geltend machen kann.
Auf das Paradoxon, dass Geimpfte mit der aufgezwungenen Impfung bislang Ungeimpfter vor einer Ansteckung geschützt werden sollen, weil diese Impfung nicht vor Ansteckung schützt, gehen die beiden Autoren gar nicht ein. Das wäre aber ihre Pflicht gewesen als reflektierte Wissenschaftler und Juristen, weil es die Präferenz des Schutzes von Geimpften gegenüber dem Grundrecht Ungeimpfter auf körperliche Unversehrtheit bereits logisch ad absurdum führt.
Als Rechtfertigung werden medizinische Gründe angeführt
Wenn Grundrechte in erster Linie Abwehrechte gegen den Staat sind, ergibt es unter Brosius-Gersdorfs eigener verfassungsrechtlicher Prämisse keinen Sinn, den (möglichen) Schutz der bereits Geimpften vor Ansteckung bei Ungeimpften unter Bezugnahme auf Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG als verfassungsrechtlich höheren Wert anzusetzen. Als Rechtfertigung führen Brosius-Gersdorf und Gersdorf medizinische Gründe an: „Der Eingriff in die körperliche Unversehrtheit der nicht impfbereiten Personen durch eine Impfpflicht ist vergleichsweise gering, weil das Risiko von Gesundheitsschäden (Nebenwirkungen) durch eine Impfung nach dem aktuellen Stand der medizinischen Erkenntnisse im Allgemeinen klein ist.“

Als Wissenschaftler hätten sie auch lange vor Veröffentlichung der RKI-Files wissen müssen, dass man bei einer völlig neuartigen Impfung mit Notzulassung knapp ein Jahr nach den ersten Impfungen mit solchen Einschätzungen zu den Nebenwirkungen sehr vorsichtig sein muss, gerade wenn die Grundrechte von Millionen Menschen außer Kraft gesetzt werden sollen.
Brosius-Gersdorf und Gersdorf äußern sich weiters zu den ihnen zufolge zum Zeitpunkt der Textveröffentlichung nicht genügend erfolgreichen Corona-Maßnahmen wie zum Beispiel die G2- und G3-Regeln, die eine Impfpflicht ebenfalls erforderlich machten. Dass Verfassungsjuristen G2 und G3 nicht mal als erwähnenswertes juristisches Problem wahrnehmen, macht fassungslos. Hier wird gar nicht mehr juristisch-wissenschaftlich argumentiert, sondern rein politisch.
Das Papier ist im November 2021 verfasst worden, als die Diskussionen um eine Impfpflicht die politische Agenda bestimmten. Obwohl als akademische Universitätsveröffentlichung ausgewiesen, kann man diesen Text als solche nur missverstehen, er sollte gezielt Einfluss auf die politischen Prozesse nehmen. Als extra unterstrichene Konklusion ihrer Impfpflichtlegitimation präsentieren uns Brosius-Gersdorf und Gersdorf dann: „Nach unserer Verfassung endet die Freiheit des Einzelnen dort, wo die Freiheit anderer beginnt. D. h., die Freiheit der Ungeimpften endet dort, wo sie die Freiheit der Geimpften beeinträchtigen.“ Dass dies genauso für Ungeimpfte gilt und deren Freiheit durch eine staatliche Impfpflicht unmittelbar beeinträchtigt wäre, während die Freiheit der Geimpften durch Ungeimpfte allenfalls mittelbar bedroht wäre, lassen sie einfach unter den Tisch fallen.
In der Lanz-Sendung vom 15. Juli 2025 verweist Brosius-Gersdorf darauf, dass diese Stellungnahme zur Impfpflicht im Kontext der damaligen Zeit zu werten sei und sie heute vielleicht zu anderen Positionen käme. Damit gibt sie zu, sich als Rechtswissenschaftlerin vom politischen Zeitgeist treiben zu lassen, ein wissenschaftlicher Offenbarungseid. Rechtswissenschaftler sollten genau das natürlich nicht tun, Verfassungsrichter schon gar nicht.

Neue Ideen zur Drangsalierung nicht Geimpfter
Die für eine Wissenschaftlerin gebotene Objektivität und Unvoreingenommenheit lässt Brosius-Gersdorf auch bei einem weiteren Brückenschlag vermissen, dem zusammen mit Nicole Friedlein am 20. Februar 2023 auf gesundheitsrecht.blog veröffentlichten Beitrag „Mehr Eigenverantwortung in der GKV: Beteiligung Nichtgeimpfter an den Kosten ihrer Covid-19-Behandlung“ (https://gesundheitsrecht.blog/beteiligung-nichtgeimpfter-an-den-kosten-ihrer-covid-19-behandlung/). Als selbsterklärte Vertreterin der politischen Mitte schätzt Brosius-Gersdorf Ungeimpfte offenkundig nicht besonders. Nachdem die von ihr propagierte Impfpflicht in der Bundestagsabstimmung am 7. April 2022 keine Mehrheit bekommen hatte, veröffentlichte sie hier nun einen Text mit neuen Ideen zur Drangsalierung Ungeimpfter.
Ans Leder sollte es ihnen diesmal in Form ihres Portemonnaies gehen, indem für nicht Geimpfte das „Solidarprinzip“ der Krankenkassen aufgekündigt wird. Grundsätzlich sehen Gesetze die Möglichkeit einer Behandlungskostenbeteiligung gesetzlich Krankenversicherter tatsächlich vor, wenn sie eine Krankheit vorsätzlich herbeigeführt haben.
Brosius-Gersdorf und Friedlein stehen nun vor dem selbst kreierten Problem, bei Menschen, die sich gegen ein Virus nicht impfen lassen und sich dann mit diesem unfreiwillig infizieren, juristisch einen Vorsatz nachzuweisen. Aber da Brosius-Gersdorf schon bei der Impfpflicht das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit mit leichter Hand genau in sein Gegenteil verkehrt hat, fällt es ihr zusammen mit ihrer Kollegin natürlich auch hier nicht schwer, aus dem Umstand einer Nichtimpfung den Vorsatz einer Infektion zu konstruieren: „Für die Gleichstellung von krankheitsstiftendem Unterlassen mit aktivem Tun genügt es jedoch, dass das Unterlassen als Obliegenheitsverletzung bzw. Verschulden gegen sich selbst zu qualifizieren ist. […] Bei einer Nichtimpfung gegen Covid-19 spricht für die Kausalität, dass eine Impfung insbesondere die Wahrscheinlichkeit eines schweren Krankheitsverlaufs erheblich reduziert.“
Der Brückenschlag der Wissenschaft zur Praxis bedeutet offenbar, aus einem X ein U zu machen. „Genügt es“ ist kein logisch-kausaler Nachweis, sondern eine Setzung, „spricht für“ ist weit entfernt von „bewiesen ist“, Wahrscheinlichkeiten sind keine Kausalitäten.

Verhältnismäßigkeit ist ein verhältnismäßig unscharfer Begriff
Da solch eine Kostenbeteiligung einfach ausgedrückt „eine verhaltenssteuernde Wirkung für die Impfentscheidung haben [könnte]“, sehen Brosius-Gersdorf und Friedlein korrekt, dass hier „ein mittelbar-faktischer Eingriff in das von Art. 2 II 1 GG umfasste Recht auf Nichtimpfung vorläge“. Ebenso sei das Grundrecht auf allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 I GG beeinträchtigt.
Das stellt für Brosius-Gersdorf und Friedlein natürlich kein Problem dar, denn: „Solche Grundrechtseingriffe wären aber verfassungsrechtlich gerechtfertigt und entsprächen insbesondere dem Verhältnismäßigkeitsprinzip.“ Weil Verhältnismäßigkeit ein verhältnismäßig unscharfer Begriff ist, lassen sich dann auch hier schnell Rechtfertigungen für Eingriffe in die Grundrechte Ungeimpfter finden.




