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Rosenthal bei Berlin im Januar 1918. In der Blankenfelderstraße betreibt Ella Hoffmann eine kleine Stehbierhalle. Hallen wie diese sind in Berlin längst eine Institution. 1877 hatte der Gastwirt Julius Kühne in der Niederwallstraße 20 zum ersten Mal in Deutschland ein Stehbierhaus eröffnet, das eine willkommene Anlaufstelle für Arbeiter war, die eine schnelle Stärkung für kleines Geld benötigten – Brötchen kosteten zehn Pfennig, ebenso das Glas Bier.
Es sind zumeist dieselben Leute, die diese Gaststätte in Rosenthal bevölkern. Unter anderem strömt das weibliche Personal des benachbarten Straßenbahnhofs nach Dienstschluss in die Stehbierhalle, aber auch Soldaten aus dem Vereinslazarett Nordend. Fremde verirren sich nur selten in diese Gegend.
Die Pächterin, die 34-jährige Ella Hoffmann, wird von ihren Stammgästen nur „die schöne Ella“ genannt. Sie ist kein Kind von Traurigkeit, sie lacht und flirtet gerne und wagt schon mal das ein oder andere Tänzchen mit einem ihrer Gäste, während jemand in die Tasten des alten Klaviers in der Ecke haut. Dann vergisst sie ihren Kummer darüber, dass sie ihren Ehemann, den Schlächter Hugo Hoffmann, der im Feld ist, schon so lange nicht mehr gesehen hat. Es ist zudem kein Geheimnis, dass sie ab und an Männerbekanntschaften in der Kneipe übernachten lässt. Ihr aktueller Freund ist ein gewisser Peter, den es an diesem Abend wieder in die Stehbierhalle gezogen hat, um mit Ella zu turteln.
Niemand ahnt, dass dieser Stammgast ein Mörder ist
Der Mann am Tisch gleich neben der Theke hat seine Ohren ausgefahren und schimpft innerlich auf Peter. Ein späterer Briefwechsel mit dem Mann, der ihn vor Gericht bringen wird, zeigt allerdings: es ist nicht die Eifersucht, die ihn ärgert – solche Gefühlsregungen sind ihm fremd –, sondern die Tatsache, dass er in Ellas Gunst nicht mehr an erster Stelle steht. Und dann hat dieser Peter sie noch mit billigem Schmuck überhäuft, woraufhin sie ganz stolz durch den Raum getänzelt war. Karl Paulus stiert versonnen in sein Bierglas. Keiner ahnt, wie sehr es in ihm brodelt. Er versteht es, sich zu beherrschen, nicht aufzufallen. Noch ist er der stets freundliche, aber doch irgendwie eigenartige Stammgast. Und niemand ahnt, dass dieser Stammgast ein Mörder ist.
An diesem Abend des 25. Januars 1918 schließt Ella wie immer die Stehbierhalle ab. Vielleicht denkt sie noch kurz an ihre Eltern, die in Stargard in Pommern leben, und die sie schon lange nicht mehr gesehen hat. Der Vater ist bereits pensioniert, hat sein Leben lang als Bahnbeamter gearbeitet. Gedanken einer Frau, die den ganzen Tag Menschen um sich herum hat, aber im Grunde wahrscheinlich einsam ist, wenn sie alle weg sind. Die Stehbierhalle ist dabei nicht nur ihr Arbeitsplatz, sie übernachtet dort manchmal, wenn es mal wieder sehr spät geworden ist. Ihr Schlafplatz ist durch einen einfachen Vorhang vom Schankraum abgetrennt.
Ella will sich gerade hinlegen, da klopft es an der Tür. Es ist Karl Paulus, der Einlass begehrt. Und Ella öffnet ihrem Mörder die Tür. Er fängt sofort Streit an, macht ihr Vorwürfe wegen diesem Peter, dann will er sein Geld zurückhaben, das er Ella für eine Reparatur vorgestreckt hat. Doch die will jetzt einfach nur schlafen und ihre Ruhe haben. Als Paulus merkt, dass es keinen Zweck hat, länger auf die Frau einzureden, stürzt er hektisch aus der Stehbierhalle und kann so gerade noch die anderen Gäste auf dem Weg zur Straßenbahn erreichen. Mit Frau Segers, die eine wichtige Zeugin sein wird, steigt er in die Straßenbahn, die in Pankow endet.
Längst liegt die Stehbierhalle im Dunkeln. Die Stammgäste sind schon lange weg. Und der Stammgast Karl Paulus?
Schneider sei er von Beruf, hat er allen erzählt, als er vor Monaten zum ersten Mal das Lokal betrat. Was er jedoch verschwiegen hatte: Er hat bereits das Gefängnis und das Zuchthaus von innen gesehen.
Ella schläft bereits den Schlaf der Gerechten, Träume hat sie vermutlich schon lange nicht mehr. Sie ahnt nicht, dass Paulus gar nicht nach Hause gefahren ist und stattdessen in der Dunkelheit durch die Straßen schleicht, getrieben von einer „unheimlichen Macht“, wie er es später beschreiben würde. Wie in Trance führen ihn seine Schritte zurück zu ihr, zu Ella. Dieser Peter soll sie nicht bekommen!
Ein halb geöffnetes Fenster ist seine Chance, leise steigt er ein, eine kleine schemenhafte Gestalt, die auch die Gaslaterne auf der Straße nicht mehr erhellen kann. Auf Zehenspitzen schleicht Paulus durch den Raum, bis er vor der schlafenden Ella steht.
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Dann hebt Paulus einen Hammer, den er in der Küche gefunden hat, und schlägt zu, einmal, zweimal und noch einmal, bis die Frau in Unmengen von Blut liegt und nur noch röcheln kann. Bevor der Mörder flieht, packt er noch hektisch Geld, Speck, Seife, Zigaretten, Tabak und eine Flasche Schnaps in seinen Rucksack.
Die „unheimliche Macht“ sorgt dafür, dass Ella am nächsten Morgen im Krankenhaus Nordend stirbt, nachdem der Schneider Ortel, der für Ella ein Kleid nähen sollte, am nächsten Morgen in aller Frühe vergeblich an ihre Tür geklopft und dann besorgt Hilfe geholt hatte.
Die Ermittler tappen ein halbes Jahr lang im Dunkeln
Die Polizeibehörden von Pankow und Niederschönhausen sind für die Ermittlungen zuständig. Sie überprüfen auch den großen Bekanntenkreis von Ella Hoffmann, jedoch ohne Erfolg. Nach einem halben Jahr sind die Beamten mit ihrem Latein am Ende, und so kommt die Berliner Kriminalpolizei ins Spiel. Der Kriminalbeamte Otto Trettin wird damit betraut, den Fall zu lösen. Trettin ist erst 27 Jahre alt und noch nicht lange im Dienst der Kriminalpolizei. Der 1891 in Scheune im Kreis Randow in Pommern geborene Mann ist auf Umwegen – über ein erfolgreiches Theologiestudium mit Stipendium – zum Kriminaldienst gestoßen. Der Mordfall Ella Hoffmann wird der Beginn einer langen Karriere, zunächst im Bereich der Einbruchsermittlungen und dann in der Raubmordabteilung. Trettin hat im Fall Ella Hoffmann instinktiv sofort einen Verdacht.
Als er Karl Paulus zum ersten Mal gegenübertritt, ist er sich sicher, dass das der Täter sein muss. Streng befragt, knickt der Mann tatsächlich ein und gesteht, dass er die Ella Hoffmann erschlagen habe. Zum Verhängnis ist ihm vor allem sein konstruiertes Alibi geworden, das auch von seiner Zimmerwirtin bestätigt worden war. Messerscharf hatte Trettin, der über eine hervorragende Ortskenntnis verfügte, den Schwachpunkt des Alibis erkannt, nämlich dass Paulus den Weg von Pankow bis zu seiner in einem nicht benachbarten Stadtteil gelegenen Unterkunft nicht bis halb 2 Uhr nachts hätte schaffen können. Das Alibi des „kleinen geschmeidigen Kerls mit den schwarzen unsteten Augen“, wie er Paulus 1934 in einem Kapitel seines Buches „Kriminalfälle“ beschreibt, war somit hinfällig. Und auch die Wirtin gab ihre Lüge zu und bestätigte, dass Paulus tatsächlich erst gegen Morgen nach Hause gekommen sei.
Die Tür der Zelle des Untersuchungsgefängnisses schließt sich. Paulus ist allein mit seinen Gedanken. Aus dem Knast heraus korrespondiert er schon bald mit Trettin. Offenbar ist es ihm ein Bedürfnis, nicht nur als simple Mordbestie in die Berliner Kriminalgeschichte einzugehen, sondern auch einen Einblick in sein Seelenleben zu geben.
„Die Welt verlangt Bedauern, Lachen, Weinen, gut, machen wirs. Fühlen tue ich bei allem nichts. Knacks, tack, und die Gedanken rasen weiter“. Gedanken eines Mörders, dem klar war, dass er sich nicht von seiner großen Schuld reinwaschen konnte. Denn Karl Paulus hatte nicht nur Ella Hoffmann getötet, wie Trettin feststellen musste. Der Mann, bei dem man Reue und Empathie vergeblich suchte, hatte bereits 1913 eine grausame Mordtat begangen.
Arbeitslos und völlig verarmt hatte er zusammen mit seiner Ehefrau Marie-Luise, die er am 7. Dezember 1912 geehelicht hatte, erweiterten Suizid begehen wollen. Mit ihrem Baby, das zu Hause in einem Pappkarton schlafen musste, weil es keine Möbel gab. Da hatten sie gestanden, er und seine Ehefrau mit dem Kind im Arm. Dann muss Paulus im letzten Moment der Mut verlassen haben. Er schubste seine Frau mit dem Kind ins Wasser und stand ungerührt am Landungssteg in unmittelbarer Nähe des Freibades Wannsee und sah zu, wie sie ertranken.
„Schützende Mauern, strenge Vorschriften und stetige Überwachung“
Dennoch benutzte Paulus sein verfehltes Leben und seine marode Psyche nicht als Entschuldigung für seine Mordtaten, eine gewisse Selbsterkenntnis war ihm geblieben. Er hatte nämlich auch gemerkt, dass nur ein Leben mit klaren Regeln – „schützende Mauern, strenge Vorschriften und stetige Überwachung“, wie er schrieb – also ohne jegliche Eigenverantwortung – ihn davor hätte schützen können, weitere Straftaten welcher Art auch immer zu begehen. Bereits seine Kindheit und Jugend hatte er in diversen Erziehungsanstalten verbracht.
Am 6. Mai 1919 wurde Karl Paulus vom Schwurgericht III in Berlin wegen zweifachen Mordes zweimal zum Tode verurteilt. Das unnatürliche Ableben seiner Ehefrau war eine „Tötung auf ausdrückliches Verlangen“ und zählte somit nicht als Mord. Die im Juli 1918 eingelegte Revision war bereits vom Reichsgericht verworfen worden. Am 28. August 1919 wurde das Todesurteil vom Reichsgericht bestätigt, später jedoch im Zuge neuer Regierungsverhältnisse in lebenslängliches Zuchthaus umgewandelt. Paulus verschwand nun völlig vom Radar.
1933 lebte Paulus noch, doch für die Nationalsozialisten war er als „Gewohnheitsverbrecher“ nur „Ungeziefer“, das es nicht verdient hatte zu atmen. Menschen wie er wurden oft als billige Arbeitskräfte missbraucht, ihr qualvoller Tod im Konzentrationslager gerne in Kauf genommen.
„Ich wüsste dem keinen Dank, der mich heute freiließe, denn was soll ich da?“, schrieb Karl Paulus auch an Trettin. 25 Jahre später wurde Karl Paulus am 8. Februar 1944 im Konzentrationslager Dora-Mittelbau in Thüringen ermordet. Er war Häftling Nr. 1873.
Bettina Müller ist freie Autorin (u. a. von „Dandys, Diebe, Delinquenten“ (Elsengold) und arbeitet derzeit an einem weiteren Buch über historische Berliner Kriminalfälle.



