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Ich bin in der DDR geboren und aufgewachsen. Am 9. November 1989, vor 36 Jahren, war ich 22 Jahre alt und noch Student in Leipzig. Kurz vor diesem historischen Tag gab es im ZDF die Sendung „Kennzeichen D“. Dort berichtete Dirk Sager, dass man als DDR-Bürger anscheinend problemlos über die Tschechoslowakei nach Westdeutschland gelangen könnte. In den Westen abzuhauen, hatte ich nie im Sinn. Familie und Freunde zu verlassen für mehr Reisefreiheit und Konsum, war nicht mein Ding. Aber diese Möglichkeit, über die Tschechoslowakei mal „rüber“ zu schauen und dann gleich wieder zurückzukommen, wollte ich unbedingt ausprobieren.
Als ich mich an dem Tag mit meinem Rucksack von meinen Mitbewohnern im Studentenwohnheim in Leipzig verabschiedete, um zum Hauptbahnhof zu fahren, lief gerade die historische Pressekonferenz mit Günter Schabowski. Wir hörten zwar die Worte, aber die Dimension hatten wir zu dem Zeitpunkt noch gar nicht verstanden. So bestieg ich am Abend den Zug der Deutschen Reichsbahn, der in den Westen nach Hof fuhr.

Der Zug zählte nur wenige Waggons, fast alle Passagiere waren Rentner aus dem Osten. Soweit ich mich erinnern kann, saßen dort weitestgehend alte Damen. Diesen wurde es von der DDR gestattet, bei Einladung von Familienmitgliedern, die im Westen lebten, auszureisen. Unter all den Rentnern im Zug fiel ich auf. Nur in einem der Nachbarabteile reiste noch ein junges Paar mit, beide sichtbar alkoholisiert, voller Freude, weil ihr Ausreiseantrag genehmigt wurde. Die alten Damen in meinem Abteil meinten, ich müsste auf jeden Fall vor der Grenze aussteigen, sonst würde ich verhaftet.
Den Damen blieb vor Staunen der Mund offen stehen
Der Ausstieg vor der Grenze und der Versuch, über die Tschechoslowakei den Westen kurz zu besuchen, war ja ohnehin mein Plan. Das betrunkene junge Paar redete dann aber schließlich so lange auf mich ein („Was soll dir schon passieren. Bleib im Zug!“), dass ich meinen eigentlichen Plan aufgab.
Es war ungefähr Mitternacht, als der Zug kurz vor Hof, noch in der DDR, wegen der Grenzkontrolle anhielt. Ich war sehr nervös. Der Grenzbeamte kam in unser Abteil, sah mich, umgeben von all den Damen, und fragte mich: „Zu Besuch oder zur Ausreise?“ Ich antwortete: „Nur zu Besuch. So spannend finde ich den Westen nun auch nicht.“ Er nahm seinen Stempel und drückte ihn in meinen Pass mit den Worten: „Viel Spaß!“ Den Damen um mich herum blieb vor Staunen der Mund offen stehen. Sie konnten es nicht begreifen. Es war unglaublich.
Ich trug damals einen dicken, von meiner Mutter gestrickten Pullover, eine Jeans und einen typischen DDR-Rucksack. Westgeld besaß ich nicht. Ich glaubte nun, naiv, wie ich war, dass mich die westdeutsche Bundesbahn, die den Zug ab Hof übernahm, in ihrer Großzügigkeit umsonst mitfahren lassen würde. Dem war aber nicht so. Die Vorschriften waren der westdeutschen Bundesbahn wichtiger. So musste ich den Zug in Hof verlassen.

Per Anhalter durch Westdeutschland
Die Nacht vom 9. November 1989 war sehr, sehr kalt. Am Bahnhof traf ich einen Typen mit einem alten Mercedes, der selbst vor Jahren aus der DDR ausgereist war. Er schlug mir vor, mich zur Autobahn zu bringen. Dann könnte ich per Anhalter weiterkommen. An der Autobahn in Hof stand ich schließlich an einer Auffahrt in der sternenklaren Nacht ganz allein im Dunkeln. Kein Fahrzeug war weit und breit zu hören oder zu sehen.
Ich stand eine gefühlte Ewigkeit an der Auffahrt und fror mir in der Eiseskälte die Seele aus dem Leib. Dann hörte ich ein Geräusch in der Ferne, das mir aus meiner Heimat so vertraut war: Ein Trabant, dieser qualmende DDR-Volkswagen, kam mir in der Dunkelheit entgegen. Ich war so glücklich, weil ich glaubte, dass da wohl der erste Ossi mit dem Trabbi über die Grenze kam. Der Wagen hielt an.
Am Steuer war ein netter Pole, der kein Wort Deutsch verstand. Ich bat ihn in meinem brüchigen Polnisch, mich so weit wie möglich mitzunehmen und mich an einer Raststation abzusetzen, da er nicht nach München fuhr. Nach wenigen Kilometern musste er die Autobahn verlassen und ließ mich an der Auffahrt aus dem Auto. Wieder stand ich allein in der Dunkelheit und fror endlos. Und wieder kein Verkehr, der in meine Richtung wollte.
Nach einer gefühlten Ewigkeit in der eisigen Nacht kam dann Erich. Ein Lastwagen hielt neben mir. Erich war nicht etwa der Staatsratsvorsitzende der DDR auf Westausflug, der unterwegs war, um Ossis unterwegs gen Westen aufzusammeln, sondern ein netter Lkw-Fahrer aus Österreich. Er freute sich sichtlich, mich zu sehen, und wusste sofort, woher ich kam. Nachdem ich in sein Fahrerhaus geklettert war, nahm er umgehend sein CB-Funkgerät und teilte seinen Kollegen mit, wen er da gerade in der Nacht von der Autobahn aufgesammelt hatte.

Nach München ohne einen West-Pfennig in der Tasche
Nach langer gemeinsamer Fahrt trennten sich schließlich unsere Wege. Erich gab mir eine Fahrtenschreiber-Scheibe mit, auf die er eine Nachricht für seine Kollegen schrieb. Das würde mir helfen, ganz schnell von anderen Lkw-Fahrern mitgenommen zu werden, meinte Erich zum Abschied. Und so war es dann auch. Anstelle meines Daumens brauchte ich nur noch diese Scheibe hochzuhalten und sofort hielten die Lastwagen an und nahmen mich mit. Sie wussten Bescheid, wer ich war.
Ohne einen West-Pfennig in der Tasche kam ich so in München an. Ich fuhr ein paar Haltestellen mit dem Bus ohne Fahrschein. Dem Fahrer sagte ich gleich die Wahrheit. Da dieser aber Angst hatte, Probleme mit seiner Firma zu bekommen, musste ich nach wenigen Haltestellen den Bus verlassen. In München-Bogenhausen schlenderte ich schließlich in die dortige Polizeiwache.
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Die Typen dort sahen wirklich so aus, wie man sich westdeutsche Polizisten in Bayern so vorstellte. Wie im Fernsehen. Dünn waren die wenigsten. Als sie mich sahen, war ihnen schnell klar, woher ich kam. Ich bat, telefonieren zu dürfen, und rief einen Freund an, der in München studierte. Mit dieser Überraschung hatte er absolut nicht gerechnet, aber er holte mich ab. In seiner kleinen Studentenwohnung angekommen, gab er mir eine Flasche Bier und hieß mich beim Anstoßen im Westen willkommen.
Wir setzten uns auf sein Bett und verfolgten gemeinsam die unglaublichen Bilder im Fernsehen, die zeigten, wie in Berlin die Mauer fiel. Ich war überglücklich, prostete vor dem Fernseher meinen Leuten in der Heimat mit den Worten zu: „Ich bin schon hier!“
Wenn ich an diesen unglaublichen Tag vor 36 Jahren denke, kommen mir heute noch manchmal die Tränen. Danke, Erich aus Österreich, dass du mich damals mitgenommen hast! Seit vielen Jahren lebe ich inzwischen selbst in Österreich. Mit meiner Heimat in Ostdeutschland fühle ich mich bis heute sehr verbunden.
Thomas Eisenhuth, geboren 1967 in Ludwigslust, lebt seit 25 Jahren in Österreich. Mit einem Partner betreibt er ein eigenes Energiehandelsunternehmen.
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