Interview

„Starke Männer“ wie Putin und Prigoschin: Wie sie mit Tabubrüchen das Publikum in Bann schlagen

Der Strongman Style durchweht inzwischen die internationale Politik. Ein Gespräch mit dem Soziologen Ulrich Bröckling über die Gegenwart und die Zukunft „starker Männer“. 

Wladimir Putin: Staatsmann oder Strongman?
Wladimir Putin: Staatsmann oder Strongman?ITAR/TASS/imago

Knapp eine Woche danach ist das Rätselraten um den „Marsch auf Moskau“ und die Absichten des Wagner-Chefs Prigoschin weiterhin groß. Welches Bild von Politik, Macht und deren Verfall wird hinter den dramatischen Geschehnissen sichtbar? Wir sprachen mit dem Freiburger Soziologen Ulrich Bröckling, der zusammen mit anderen Kolleginnen und Kollegen in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Mittelweg 36 die Merkmale der sogenannten Strongmen Politics skizziert hat.

Herr Bröckling, das vergangene Wochenende stand ganz im Zeichen einer atemberaubenden Aufführung vom Griff nach der Macht, aber auch von Szenarien des drohenden Machtverlusts. Passen die Nachrichten und Liveticker vom abgesagten „Marsch auf Moskau“ ins Schema dessen, was man über „Starke Männer“ zu wissen glaubte?

Sie passen insofern ins Bild, als sie die verwundbare Stelle von Starke-Männer-Regimen sichtbar gemacht haben: Putins Herrschaft stützt sich auf ein ausbalanciertes System konkurrierender staatlicher und parastaatlicher Apparate. An deren Spitze stehen Gefolgsleute, die ihm in persönlicher Loyalität verbunden sind, sich einander aber misstrauisch beäugen und oft genug bekämpfen. Solange sie sich wechselseitig in Schach halten, sitzt der Starke Mann fest im Sattel. Stellt einer der Paladine die uneingeschränkte Autorität des obersten Bosses infrage, wie es Prigoschin getan hat, kann das gesamte System ins Rutschen kommen. Ob das tatsächlich geschehen wird, ist nicht ausgemacht.

Putin ist nicht mehr der virile Kraftbursche

Wenn von Putins Machtpolitik die Rede war, drängten sich oft Bilder auf, die ihn mit nacktem Oberkörper zu Ross und beim Angeln zeigen. Braucht es diesen archaischen Ausdruck von Stärke noch immer?

Die offensive Demonstration aggressiver Männlichkeit gehört zur Selbstinszenierung der Starken Männer wie das Protzen mit dem eigenen Reichtum. Ihrer physischen Präsenz kommt deshalb so große Bedeutung zu, weil sie selbst nicht bloß Repräsentanten, sondern leibhaftige Personifizierungen staatlicher Macht und nationaler Größe zu sein beanspruchen. Putin hatte allerdings in den vergangenen Jahren das Bild des virilen Kraftburschen nach und nach durch eher staatsmännische Attitüden ersetzt. Vor allem seit Kriegsbeginn versucht er nach innen hin Sicherheit und Normalität auszustrahlen. Seine vulgäre Aggressivität blitzt zumindest in der Öffentlichkeit nur gelegentlich auf, wenn er Hasstiraden gegen die ukrainische Regierung abfeuert oder Prigoschin als Verräter brandmarkt – um es dann wenige Stunden später wieder zurückzunehmen.

Wie passt Jewgenij Prigoschin ins Bild? In den Videos, in denen er Putins Generalität beschimpfte, präsentierte er sich als ungehobelter Rabauke, der gar nicht versucht, seinen Bauchumfang zu verbergen. Gab er den Herausforderer in ungeschminkter Direktheit?

Das berserkerhafte Auftreten Prigoschins entspricht seinem Geschäftsmodell, das auf Androhung und exzessiver Anwendung von Gewalt beruht. Er verkörpert den Starken Mann als skrupelloser und brutaler Mafioso. Ein zum Kriegsunternehmer aufgestiegener Krimineller, der Tausende seiner in russischen Gefängnissen rekrutierten Söldner bei Bachmut in den Tod schickte und einen Deserteur vor laufender Kamera mit einem Hammer erschlagen ließ. Mit der von Putin angeordneten Eingliederung seiner Truppe in die Armee drohte seine bis dahin aus der russischen Staatskasse reichlich sprudelnde Einnahmequelle zu versiegen. Wegen des Durchhaltewillens, den seine Söldner trotz des hohen Blutzolls zeigten, verkörpert Prigoschin für viele Russen jedoch jene heroische Kampf- und Opferbereitschaft, die Putin und seine Generäle beschwören, aber offensichtlich nicht zu organisieren vermögen.

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Klaus Polkowski
Zur Person
Ulrich Bröckling, Jahrgang 1959, lehrt Soziologie an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Soziologie der Sozial- und Selbsttechnologien, Gouvernementalitätsstudien, Kultursoziologie und Soziologie des Krieges und des Militärs. 2020 ist sein Buch „Postheroische Helden. Ein Zeitbild“ im Suhrkamp-Verlag erschienen. In der Zeitschrift Mittelweg 36 beschäftigen sich Bröckling und andere mit Figuren disruptiver Politik. Ulrich Bröckling ist Mitherausgeber der Zeitschrift Leviathan.

In der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Mittelweg 36 haben Sie gemeinsam mit anderen Autoren über die sogenannten Strongmen Politics nachgedacht. Was verbirgt sich hinter dem Begriff, und was unterscheidet ihn von den bisherigen Beschreibungen des politischen Populismus?

Ausgangspunkt unserer Überlegungen war der Aufstieg eines neuen Typus autoritärer Herrschaft, für den Figuren wie Trump, Bolsonaro, Xi Jinping, Orbán, Erdogan oder eben Putin stehen. Der erste von ihnen war der jüngst verstorbene Silvio Berlusconi. Einige dieser Starken Männer sind charismatische Anführer populistischer Bewegungen und Parteien, die wie Trump oder Bolsonaro durch demokratische Wahl an die Macht gelangen und nicht selten auch wieder abgewählt werden. Bei anderen handelt es sich um lupenreine Autokraten oder mit diktatorischer Macht ausgestattete Vorsitzende von Ein-Parteien-Regimen wie im Falle Xi Jinpings in China. Was sie eint, ist ein disruptiver Politikstil, gekennzeichnet durch Personalisierung und Polarisierung. Zum Strongman Style gehört es, einfache Lösungen für komplizierte Probleme zu versprechen und im gleichen Zuge finstere Mächte dafür verantwortlich zu machen, ihre Umsetzung zu vereiteln. Darin steckt ein starker populistischer Impuls, aber nicht alle Starken Männer sind Populisten, und es gibt auch populistische Bewegungen und Parteien ohne eine Führergestalt an der Spitze.

Die sozialen Medien befördern eine Politik der Affekte

Fast schien es, als seien die Vorstellungen vom Starken Mann ein überholtes Rollenmodell zur Manifestation von Macht in der Geschichte. Beim Strongmen-Phänomen spielen die sozialen Netzwerke und die digitalen Trollfabriken eine wichtige Rolle. Wie modern sind die Strongmen?

Neu ist in der Tat die enge Verbindung der Starken Männer zu den Medien. Berlusconis Aufstieg fällt zusammen mit dem Siegeszug des Privatfernsehens in Italien, Trump moderierte vor seiner Wahl zum Präsidenten eine Reality-TV-Show und regierte dann via Twitter. Seine Macht beruhte auf der Aufmerksamkeitsökonomie eines Spektakels, das jeden Augenblick mit neuen Tabubrüchen aufwartete und so das Publikum, einschließlich der Opposition, in Bann zog. Andere Strongmen haben diese Strategie bei ihm abgeschaut. Die sozialen Medien befördern eine Politik der Affekte, und diese lassen sich am besten mobilisieren, wenn sie mit konkreten Personen verbunden werden. Begeisterte Zustimmung, aber auch leidenschaftliche Ablehnung brauchen und suchen sich ein Gesicht. Die Starken Männer bewirtschaften vor allem negative Affekte wie Hass und Ressentiments.

Mit Marine Le Pen und Giorgia Meloni erfüllen in der europäischen Politik mindestens auch zwei Frauen Strongmen-Charakteristika. Ein Gruppenbild mit Damen?

So könnte man sagen. Auffällig ist, dass die Starken Frauen sowohl in ihren politischen Programmen wie in ihrem persönlichen Auftreten jene Härte und jenen Machtwillen an den Tag legen, die traditionell eher mit Vorstellungen von Männlichkeit assoziiert werden. Zugleich präsentieren sie sich als emanzipierte Frauen, die der extremen Rechten ein modernes Image verleihen, das sie auch für Wähler und vor allem für Wählerinnen der bürgerlichen Mitte attraktiv macht.

So einleuchtend die Demonstrationen der Stärke bei Putin, Erdogan und anderen sein mochten, werden an ihnen inzwischen doch sehr deutlich Alterungserscheinungen sichtbar. Steuern die eben noch mächtigen Despoten nicht unweigerlich auf ein King-Lear-Syndrom zu?

Personalisierten Formen von Herrschaft stellt sich das Problem der Nachfolge: Die auf dem Thron sitzen, wollen ihn nicht räumen. Die Jungen suchen die Nähe zum Machthaber, solange sie für ihren eigenen Aufstieg davon zu profitieren glauben. Zugleich lauern sie nur auf eine Gelegenheit, den Alten abzuservieren, die Konkurrenten auszuschalten und selbst das Ruder zu übernehmen. Deshalb herrscht im Umfeld der Starken Männer stets ein paranoisches Klima des Misstrauens, und die Führungswechsel verlaufen oft gewaltsam. Das macht gerontokratische Regime besonders gefährlich, eröffnet manchmal aber auch Gelegenheiten für demokratische Revolutionen. Dass die Abwahl der altersstarren Starken Männer keineswegs einen friedlichen Übergang garantiert, haben der Sturm aufs Kapitol nach Trumps Niederlage und die Parallelaktion in Brasilia nach der Abwahl Bolsonaros demonstriert.

Das Ende kommt meistens abrupt

Sie beschreiben in Ihrem Essay ausführlich die Rolle des Beziehungsgeflechts, das die Mächtigen um sich gesponnen haben und das sie zur Stabilisierung ihrer Macht auch zwingend benötigen. Beobachten wir in Russland gerade ein Schauspiel erodierender Macht?

Dieses Beziehungsgeflecht besteht, grob gesagt, aus vier Elementen: erstens den Führerfiguren selbst, zweitens ihrer Anhängerschaft und Wählerbasis, drittens einem engen Kreis von Gefolgsleuten mit Zugriff auf die administrativen, militärischen und geheimdienstlichen Apparate sowie die ökonomischen Ressourcen. Viertens schließlich gehören dazu die anderen Mitglieder im globalen Klub der Strongmen. Die wechselseitigen Abhängigkeiten, Unterwerfungsverhältnisse, Loyalitäten und taktischen Koalitionen in diesem Gefüge sind komplex. Hinzu kommen die Unwägbarkeiten des weiteren Kriegsverlaufs. Ob das Regime Putin gerade erodiert, das ist schwerlich abzusehen. Wie fragwürdig Prognosen sind, das haben die Ereignisse des letzten Wochenendes gezeigt. Eines wird man indes sagen können: Starke Männer mögen sehr lange unangefochten herrschen, Putin ist dafür ein Beispiel, ihr Ende kommt meist abrupt.

Interview: Harry Nutt

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