Der Stau ist ein Gleichmacher. Wenn alles zum Stillstand kommt, ist es egal, wie stark dein Auto motorisiert ist. Das Warten auf Weiterfahrt erweist sich als Geduldsprobe sozialer Egalität. Dachte ich zumindest. Ein junges, mutmaßlich heterosexuelles Paar mit dunkel getönten Sonnenbrillen, die samt einer tiefer gelegten Sportlimousine in meinem Rückspiegel auftauchten, lehrte mich anderes. Sie fuhr, er telefonierte. An Mimik und Gestik meinte ich ablesen zu können, dass er jemand anderem Befehle erteilt. „Das kann doch wohl nicht wahr sein“, „So macht man das“, „zack-zack“. Vorsorglich präparierte ich mich für den Augenblick, in dem er an mein Fenster treten würde.
Als er wenig später tatsächlich ausstieg, würdigte er mich keines Blickes. Er checkte die Lage und vermaß mit coolen Blicken Fahrzeugabstände. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass die Standspur frei ist, dirigierte er seine Frau aus der zweiten Fahrspur an dem dicht stehenden Lkw vorbei und nahm wieder Platz in seinem Schalensitz. Geduld? Verkehrsregeln? Der destruktive Charakter, heißt es in dem berühmten Denkbild von Walter Benjamin, kennt nur eine Parole: „Platz schaffen, nur eine Tätigkeit: räumen. Sein Bedürfnis nach frischer Luft und freiem Raum ist stärker als jeder Hass.“
Diese Freiheit nehme ich mir
Während der Szene auf der Autobahn vermochte ich Benjamins Charakterisierung nicht als Beruhigung zu deuten. Wie hätte der Mann, der sich seinen Weg durch den Stau bahnte, wohl reagiert, wenn ein Hindernis sich ihm in den Weg gestellt hätte? Wenn die Alltagswahrnehmung nicht täuscht, kann man immer häufiger Szenen erleben, in denen sich Menschen ihre Freiheit auch dann nehmen, wenn sie die anderer einschränken. Ein affektiver Rigorismus gegen die lähmende Regelhaftigkeit. Poller, Hinweisschilder, Abstandswahrung – nicht für mich.
Das Bedürfnis, sich über die Allgegenwart einengender Gebote hinwegzusetzen, ist längst auch in den politischen Raum eingedrungen. Während die Bewältigung einer drohenden Zukunftslosigkeit pragmatischen Umgang mit Ressourcen und einen mutig-experimentellen mit neuen Technologien verlangt, setzten die Akteure des politischen Aktivismus von rechts wie von links auf die Gewalt der Mir-reichts-Haltung.
Niemand hat das stärker von der Kette gelassen als Donald Trump, der in dem nun anstehenden Prozess über dessen fahrlässigen Umgang mit Geheimdokumenten ganz ausdrücklich auf die Missachtung von Regeln und Verboten zielt. Dabei ging es ihm nicht um die Annahme, als Präsident der USA alles zu dürfen. Vielmehr lebt er mit narzisstisch aufgeladenen Allmachtfantasien einen radikalen Egoismus vor. Selbst jetzt, wo Donald Trump eine nur noch besonders hässliche Fußnote der politischen Weltgeschichte zu sein scheint, propagiert er erfolgreich Rücksichtslosigkeit als egomanes Programm für alle. Es speist sich aus jener affektiven Energie des Populismus, die mit dem Abtreten oder Ableben der autokratischen Hasardeure nicht einfach verschwunden sein wird.


