Harmsens Welt

Homo passwortensis: Manchmal wünscht man sich das alte Telefon zurück

Früher konnte man als Schreiberling schlau über neue Technologien schwadronieren. Heute ist man selbst ein Teil davon, ein Homo passwortensis. Eine Kolumne.

Vor ein paar Jahrzehnten hat man selbst als Redakteur mit solch einem Ding gearbeitet. Heute steht es im Museum, wie auch die alten Schreibmaschinen.
Vor ein paar Jahrzehnten hat man selbst als Redakteur mit solch einem Ding gearbeitet. Heute steht es im Museum, wie auch die alten Schreibmaschinen.Uli Deck/dpa

Was wäre der Mensch ohne Telefon? Ein armes Luder. Was aber ist er mit dem Telefon? Ein armes Luder.“ Das schrieb der Satiriker Kurt Tucholsky um 1930, hin- und hergerissen zwischen den Chancen der modernen Kommunikation und ihren Zumutungen. Er amüsierte sich vor allem darüber, wie banal die Inhalte waren, die man so austauschte. „Von dem, was in einer großen Stadt zusammentelefoniert wird, ist gut und gern die Hälfte überflüssig“, schrieb er.

Einmal habe ich den Bericht eines arg gestressten Redakteurs gelesen, der um 1900 in einer großen Berliner Zeitung arbeitete. Das Telefon, das Teufelsding, hing draußen in einem extra Raum, und ein Redaktionsgehilfe kam herein, um dem „Herrn Redakteur“ zu melden, dass ein Anruf für ihn eingegangen sei.

Dieser schritt hinaus „zum Apparate“, um die Nachricht entgegenzunehmen, dass irgendwo in Brandenburg eine besonders große Kartoffel geerntet worden war. Über diese Sensation wurde dann den ganzen Tag hin- und hertelefoniert.

Man schrumpft als oberschlauer Schreiberling zum doofen Drittklässler

An Tucholsky und den „Herrn Redakteur“ muss ich manchmal denken, wenn ich heute so vor meinem Computer hocke. Gerade mal gut 140 Jahre sind vergangen, seit es in Berlin das erste Telefonbuch mit 99 Anschlüssen gab, genannt „Buch der 99 Narren“. Tucholsky konnte sich noch als Beobachter amüsieren über die Banalitäten rund um die neue Technik. Und der „Herr Redakteur“ konnte irgendeinem dienstbaren Geist zurufen: „Können Sie mir bitte eine Verbindung machen!“

Das geht heute nicht mehr. Heute ist man als Homo passwortensis selbst ein Rädchen im großen technischen Betriebe. Telefone gibt’s in unserer Redaktion nicht mehr. Kommuniziert wird über den Computer. Und wenn man es nicht geschafft hat, das erforderliche neue Programm für irgendwas zu installieren, muss man Norbert von der IT-Abteilung zu Hilfe holen (Name geändert).

„Das hätte schon vor acht Monaten aktualisiert sein müssen!“

Norbert starrt entgeistert auf den Bildschirm wie in die vermüllte Messi-Bude. „Sie haben da ja noch die alte Fummelgedönsvariante auf Ihrem Rechner. Die hätten Sie doch längst aktualisieren müssen“, sagt er. Sofort schrumpft man als oberschlauer Schreiberling (der gerade an einem hochwissenschaftlichen Artikel über Gravitationswellen brütet) zum doofen Drittklässler.

„Wie? Alte Variante?“, fragt man. – „Na, sehen Sie da den blauen Punkt? Das hätte schon vor acht Monaten aktualisiert sein müssen!“ – „Ich dachte, man bekommt da ’ne Nachricht oder so.“ – „Nee, das müssen Sie schon proaktiv machen.“ Mitleidiges Lächeln.

„Aah, und wie ich sehe, haben Sie da sowieso das falsche Programm auf. Drücken Sie das mal weg. Und jetzt das da auf! Und jetzt Ihr Passwort.“ – „Ich glaube, das weiß ich nicht mehr. Ich gehe immer mit der 0815-Maske rein.“ – „Sie wissen Ihr Passwort nicht mehr??“ Mitleidiges Lächeln. Und so weiter.

Eines Tages steht Roboter Nobbi-2 hinter mir und schimpft mich voll

Dem „Herrn Redakteur“ von damals müsste man heute eine riesige Aktentasche hinterhertragen, allein für seine vielen Internet-Passwörter. Und Tucholsky würde sich wohl immer noch über die banalen Inhalte amüsieren, die den ganzen technischen Aufwand nicht rechtfertigen. Denn von dem, was heute so „zusammentelefoniert“, gechattet und gemailt wird, ist sicher nicht nur die Hälfte überflüssig. Vermutlich sind es 92 Prozent.

Trotzdem geht’s immer weiter. Eines Tages übernimmt dann die Künstliche Intelligenz. Dann steht Roboter Nobbi-2 hinter mir und schimpft mich voll, weil ich immer noch „die alte Variante drauf“ habe. Na, gute Nacht. Wie schön war doch die Zeit mit dem Telefon!