Wer keine Ahnung hat, dem kann man viel erzählen. So zum Beispiel auch die Mär, dass die Hälfte der Menschen, die sich täglich in deutschen Notaufnahmen einfinden, dort eigentlich gar nichts zu suchen hätte.
Sie hätten bloß ihre Kontaktlinsen kaputt getreten, sie fänden den Faden für den vollgesogenen Tampon nicht mehr, sie seien zu faul, zum Hausarzt zu gehen, ihr Rückenleiden würde schon seit zwei Wochen bestehen oder sie würden regelmäßig an Migräne leiden und hätten in Wahrheit gar kein akutes Leiden – Vorwürfe wie diese von angeblich „falschen“ Patienten, die reihenweise die Notfallambulanzen der Kliniken verstopfen, finden sich zuhauf im Netz und hinter vorgehaltener Hand von Pflegekräften, die davon selbst „gehört“ hätten, oder teils von Rettungsdienstlern, die massenhaft solche Patienten in die Ambulanzen kutschieren müssten, weil die Gesetze das angeblich so vorgäben.
Die Realität sieht – leider, muss man sagen – anders aus. Wir hätten noch vergleichsweise paradiesische Zustände im Gesundheitswesen, wenn tatsächlich 15 der insgesamt knapp 30 Millionen Patienten jährlich, die eine Notfallambulanz aufsuchen, solche Simulanten wären und nur mit Zipperlein kämen. Die würden von den dortigen Fachkräften relativ zügig aussortiert und nach Hause geschickt werden, weil sie in der Tat keine Notfälle sind.
Was viele nämlich auch nicht wissen: Es gibt in unserem Gesundheitssystem längst eine sogenannte Triage, die zu Beginn der Corona-Pandemie plötzlich als Riesen-Bedrohung auftauchte. Jede Klinik arbeitet mit dem System, die akutesten Notfälle von denen zu unterscheiden, die zwar ebenfalls akut, aber weniger dringlich sind, und diese wiederum von denen, die weder akut noch dringlich – oder gar keine Krankheitsfälle sind.
Statt reihenweise Simulanten oder Ansteller tummeln sich in den Notfallambulanzen aber schon seit sehr vielen Jahren tatsächliche Notfälle, die stundenlang auf Behandlung warten müssen, obwohl sie Notfälle sind – weil es überall an Personal mangelt. Nicht nur in den Notfallambulanzen selbst, sondern auch auf den Stationen, wo deshalb Patienten früher entlassen werden müssen, als es ihnen guttut, und die auch deshalb mit verschärften Krankheitsbildern wieder die Ambulanz aufsuchen. Oder weil sie keine niedergelassenen Ärzte mehr finden – geschweige denn rechtzeitige Termine bei Fachärzten.
Hinzu kommt die unzureichende Versorgung vieler Pflegefälle aufgrund massiven Personalmangels in Pflegeheimen. Und dann auch noch verschwindend geringe Angebote der Palliativmedizin. All die Opfer dieses erodierenden Gesundheitssystems tummeln sich nun leider – neben den sonstigen akuten Notfällen, die es ja auch noch gibt – in den Notfallambulanzen. Aber nicht, weil sie dort egozentrisch ihre Ansprüche durchsetzen wollen würden, sondern aus der puren Not, dass ihnen woanders nicht mehr geholfen wird.
Deshalb ist es theoretisch gut, dass nun – mal wieder – eine Reform der Notfallmedizin in Planung ist. Doch sie kann nur scheitern, wenn sie von falschen Voraussetzungen ausgeht und die dringend benötigte Neuaufstellung der medizinischen Versorgung – mal wieder – vom falschen Ende her denkt. Ein für alle Mal: Die medizinische Versorgung in diesem Land muss zuallererst vom Patienten her gedacht werden und für sein Wohl sorgen. Erst dann kommen die Belange der Pflegekräfte, Krankenkassen, Klinikleitungen, Ärzte und Berufsverbände ins Spiel.
Es ist bedenklich, wenn die nun von Gesundheitsminister Lauterbach vorgestellte Reformidee einer Expertenkommission davon ausgeht, man könne die Zahl der unerwünscht in Notfallambulanzen auftauchenden Patienten regulieren, indem man vorab telefonische Leitstellen und am Ort sogenannte Tresen aufbaut, die Patienten an andere Orte verweisen.







