Fifa-Weltmeisterschaft in Katar

Fußball und Moral: Die WM zu schauen, ist eine Frage der persönlichen Hygiene

Die Fifa hat längst ihre Entscheidung getroffen, die Politiker inzwischen auch. Nun liegt es am Publikum, sich zur WM in Katar zu verhalten, sagt unsere Autorin.

Der offizielle Ball für die Fußball-Weltmeisterschaft in Katar
Der offizielle Ball für die Fußball-Weltmeisterschaft in KatarAFP

Stell dir vor, es ist WM und keiner schaut zu. Stell dir vor, die mit Gefälligkeiten für Funktionäre des Weltfußballverbandes Fifa in den Golfstaat vergebenen Männer-Spiele erweisen sich als nicht so prestigeträchtig, wie von Katar gehofft. Stell dir vor, an diesem Wochenende, zu den letzten Bundesligaspielen vor Katar, sind die Ränge wieder voller Transparente, die Nein zu dieser WM sagen. Denn die Initiative #BoycottQatar2022 nennt das Turnier ein dem Fußball unwürdiges Vorhaben, das die Gebote sportlicher und politischer Fairness verletzt.

Eine Fußball-Weltmeisterschaft ist kein so unschuldiges Ereignis wie ein Naturschauspiel. Wenn sie in einem Land stattfindet, in dem die Menschenrechte nur für einen Teil der Bevölkerung gelten, dann kann sich jeder selbst fragen, ob sie oder er die WM noch attraktiv findet. Zu anderen Gelegenheiten erwartet die Öffentlichkeit von Fußballfans ja auch, dass sie sich moralisch verhalten.

Moral wird sonst auch von den Fans erwartet

Wird ein schwarzer Spieler von den Rängen aus verhöhnt, ist es selbstverständlich, dass die Mehrheit des Publikums die rassistischen Pöbler mit Verachtung straft. Wenn sich Rechtsradikale in den Fanklubs finden, die mit den Schals auch Nazi-Sprüche hochhalten, gehen die Demokraten davon aus, dass diese Störer verdrängt werden. Zuschauer, die ihre Leidenschaft mit Pyrotechnik befeuern, gelten als verantwortungslos und werden so behandelt. Und während heute in vielen Stadien Regenbogenfahnen wehen, wird noch immer gefragt, warum im Fußball Homosexualität weiterhin wie ein Sonderfall des Lebens behandelt wird.

Unpolitisch ist der Fußball also ohnehin nicht. Fußball verbindet. Es ist die Sportart mit den meisten Anhängern hierzulande, ob sie ehrenamtlich eine Kindermannschaft trainieren, den Schöneberger FC Internationale anfeuern oder den Spitzenverdiener Bayern München. Beim Zuschauen kann man, wenn man Glück hat, 90 Minuten lang alle Sorgen vergessen, sich mit Wildfremden aufregen oder ausgelassen freuen. In der Entscheidung über einen Foul-Elfmeter werden wir alle zu Experten. Bei Weltmeisterschaften oder Champions-League-Finals zeigen sich Präsidenten, Kanzlerinnen und Thronfolger in den Ehrenlogen. Und wie wurde das Sommermärchen anno 2006 belobigt, als es nicht mehr als nationalistisch, sondern nur als stolz galt, mit der deutschen Fahne herumzulaufen.

Politik erreicht nicht zum ersten Mal den Sport

Fußball trennt auch. Mannschaften mit einer Vielzahl grob unsportlicher Fans wurden schon oft Geisterspiele verordnet. Aus Angst vor Ausschreitungen gibt es bei Derbys keinen Alkoholausschank im Stadion. Polizei kurvt dann nicht nur durch die Städte, sondern fängt manchmal die sogenannten Ultras schon am Bahnhof ab – und dass sich dabei auch Ordnungshüter gelegentlich grob unsportlich verhalten, gehört leider auch dazu.

Internationale sportliche Großereignisse, vor allem die Olympischen Spiele und Fußball-Weltmeisterschaften, haben stets auch einen politischen Bezug. Nicht grundlos boykottierten mehrere Staaten des Westens 1980 die Sommerspiele von Moskau, die östliche Antwort war vier Jahre später in Los Angeles zu beobachten. Für die jeweiligen Sportler, die darauf hin trainiert hatten, waren es schmerzliche Wochen. Wegen des Angriffskrieges gegen die Ukraine ist Russland in diesem Jahr von allen großen Wettbewerben ausgeschlossen. Eine Fußball-Weltmeisterschaft hat andererseits für die Staaten nicht die wirtschaftliche Bedeutung wie der Versuch, Flüssiggas aus Katar zu beziehen oder seltene Erden aus China. Diplomatische, sportliche und wirtschaftliche Kontakte unterscheiden sich.

Gut möglich, dass sich ein Boykott vor den Fernsehgeräten nicht in den Quoten bemerkbar macht. Die Arbeitsgemeinschaft Fernsehforschung ermittelt die Zuschauerzahlen nach einem komplizierten System für den Querschnitt der Bevölkerung  und rechnet das hoch. Ob diese Leute in den vergangenen Wochen und Monaten eher mehr oder weniger über die Korruptheit der Fifa oder den Stadionbau in Katar nachgedacht haben, können wir Zuschauer ohne Messgerät genauso wenig wissen, wie uns unklar bleibt, warum Volksmusik mehr Zuspruch findet als Politmagazine. Die Entscheidung gegen die Fußballshow im vollklimatisierten Reichenstaat ist für jeden Einzelnen eine Frage der persönlichen Hygiene. Man mag sie vergleichen mit dem Verzicht auf Fleisch, das mit Mitteln der Tierquälerei produziert wurde, oder mit der Entscheidung für ein kleineres oder überhaupt gegen ein Auto im Sinne der Umwelt. Der Einzelne ändert in diesen Fällen nichts, aber kein kleiner Schritt ist umsonst gegangen.