Als Außenministerin Annalena Baerbock kurz vor Beginn des Krieges in Kiew die Ablehnung von Waffenlieferungen an die Ukraine mit der „deutschen Geschichte“ begründete, war ich mir der historischen Schieflage ihrer Worte womöglich nicht bewusst. Wenig später war sie in aller Munde. Unter der Gewaltherrschaft der deutschen Besatzer hatte insbesondere die Ukraine zu leiden. Wie und warum es dazu kam, ist gut nachzulesen in einem Kapitel des Buches „Zerborstene Zeit“ des Historikers Michael Wildt.
Man konnte Baerbocks Äußerung als Indiz für unzureichend ausgebildetes historisches Bewusstsein betrachten, der Außenministerin jedenfalls stellten sie kein gutes Zeugnis aus. Die Episode zeigt, wie dringend es geboten ist, eingeübte und nicht selten in Phrasen abgesunkene historische Annahmen immer wieder zu überprüfen.
Im Wohlgefühl der Versöhnung
So gesehen erweist der Autor Max Czollek den Lesern seines soeben erschienenen Essays „Versöhnungstheater“ einen guten Dienst, indem er unerbittlich auf die Widersprüche und Selbstgefälligkeiten der jüngeren deutschen Erinnerungspolitik aufmerksam macht. Die Deutschen, so sein Vorwurf, haben es sich bequem gemacht in der Annahme, sich der eigenen Vergangenheit, insbesondere den Verbrechen des Nationalsozialismus, hinreichend gestellt zu haben, wenn auch mit einiger Verspätung. Als Beleg dieser Annahme könnten einige Dutzend Gedenktage, Mahnmale und Hunderte öffentlicher Reden gelten, zu denen sich ein Wohlgefühl der Versöhnung einstellen möge. Es ist ein verräterischer Frieden mit den Verheerungen, die die Deutschen zwischen 1933 und 1945 angerichtet haben. Als ein in Deutschland lebender Jude kann und will Czollek es nicht als seine Aufgabe betrachten, bei diesem zustimmenden Schulterklopfen im Namen einer vermeintlich gelungenen Aufarbeitung mitzutun.
Die deutsche Erinnerungspolitik habe verschiedene Phasen durchlaufen, konstatiert Czollek, derzeit wohnten wir einem Versöhnungstheater bei, in dem die Erinnerungskultur als Motor des nationalen Selbstbildes fungiere. Anstelle einer Politik der Wiedergutmachung, die sich vor allem auch der Geschichte der Opfer widmet, gefallen sich die Deutschen im Prozess der Wiedergutwerdung, in der kulturelle Überlegenheit aus dem guten Gefühl der Entlastung hervorgehe. Das ist ein schmerzlicher Befund, und Max Czollek trägt haufenweise Indizien zusammen, die zumindest nachdenklich stimmen.
Eine hastig hingeschriebene Gegenthese
Sein polemischer Geist trägt ihn aber geschwind von hier nach dort, es geht ihm darum, Repräsentanten der deutschen Mehrheitsgesellschaft auf frischer Tat zu ertappen. In Reden und Interviews, etwa von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, dem früheren Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse und der Ex-Kulturstaatsministerin Monika Grütters wird er schnell fündig. In zum Teil mit religiöser Inbrunst aufgeladenen Sätzen über Erinnerung und Versöhnung scheinen sie ihm in die Falle zu gehen. Bereitwillig fügen sie sich ein in eine Kasuistik einer allzu fahrlässigen Genugtuung über das politisch Erreichte.
Czollek aber ist allenfalls bedingt an der Durchdringung seiner zum Teil pfiffigen Beobachtungen interessiert. Immer muss er schnell weiter, atemlos durch die Debattenkultur, in der es um Identitätspolitik, die Erinnerungstafeln von Spendern im Berliner Schloss, dessen Errichtung überhaupt und vieles mehr geht. Czolleks hastig hingeschriebene Gegenthese lautet: „Erinnerungskultur ist dazu da, die Gegenwart so einzurichten, dass sich die Vergangenheit nicht wiederholt.“ Wenn das mal nicht jener Phrasenhaftigkeit sehr nahekommt, die er mit einiger Verve soeben selbst durch die Arena der zeitgenössischen Auseinandergezogen gezogen hat.


