Silvester

Alexandru Bulucz: Die Debatte um Integration wird oft instrumentalisiert

Der Dichter, der wie Behzad Karim Khani im Sommer beim Bachmann-Wettbewerb las, schreibt über Herkunft. Er spricht hier von seiner „Turbointegration“.

Der Dichter Alexandru Bulucz hat andere Erfahrungen gemacht als Behzad Karim Khani.
Der Dichter Alexandru Bulucz hat andere Erfahrungen gemacht als Behzad Karim Khani.Markus Wächter/Berliner Zeitung

Wie gelingt Integration? Ist es überhaupt Integration, die nötig ist, damit Menschen aus verschiedenen Herkunftsländern sich in Deutschland, in Berlin zu Hause fühlen? Solche Fragen beschäftigen nach den Silvester-Ereignissen von Neukölln allgemein viele Diskussionsrunden – in der Berliner Zeitung im Speziellen nach einem hier veröffentlichten Kommentar von Behzad Karim Khani. Wir sprechen mit dem Schriftsteller Alexandru Bulucz über seine Erfahrung mit der Einwanderung.

Herr Bulucz, wissen Sie auf Anhieb, wie viele Landesgrenzen Sie vom Land Ihrer Geburt trennen?

Es sind drei. Es sei denn, man zählt anders. An der rumänisch-ungarischen Grenze muss man zwei Passkontrollen über sich ergehen lassen. Rumänien ist kein vollwertiger Schengener Staat.

Die Frage spielt an auf Ihren Text „Einige Landesgrenzen weiter östlich, von hier aus gesehen“, für den Sie beim Bachmann-Wettbewerb 2022 in Klagenfurt den Deutschlandfunk-Preis erhielten. Wenn man Artikel dazu googelt, kommt auch der Satz: „Alexandru Bulucz sorgt für Sprengstoffalarm“. Sind Sie ein gefährlicher Ausländer?

Eine deutsche Staatsbürgerschaft besitze ich, neben der rumänischen, erst seit 2018. Als ich sie noch nicht hatte, hat mich der Gedanke daran, dass ich gerade bei Grenzübertritten oder Flughafenkontrollen als Gefahr wahrgenommen werden könnte, tatsächlich beschäftigt. Die globalen Folgen der Terroranschläge vom 11. September 2001, die präventive Terrorbekämpfung, haben eine Art Verfolgungswahn in mir ausgelöst. Als bärtiger Mann, dem das eine Augenlid tiefer herabhängt als das andere und der auch auf Passbildern unvorteilhaft ausschaut, muss ich Beamten irgendwie suspekt erscheinen, dachte ich mir. Auf meiner Reise nach Klagenfurt war es nur eine Umhängetasche, die offenbar bei einem Klinikaufenthalt zuvor irgendeine Strahlung abbekommen hat, die den Sprengstoffalarm bei der Kontrolle am BER anschlagen ließ.

Sie kommen aus Rumänien, Siebenbürgen, haben nicht so einen für deutsche Ohren geläufigen Namen wie Ihre Kollegen Ernest Wichner, Herta Müller oder Richard Wagner. Haben Sie in Deutschland Diskriminierung wegen Ihres Namens erfahren?

Genannte Kollegen haben ja auch siebenbürgisch-sächsische und/oder donauschwäbische, also deutsche Ursprünge. Ich dagegen rumänische und ungarische. Mein Vater, dessen Namen ich trage, gehört in Rumänien der ungarischen Minderheit an, die es dort auch nicht gerade einfach hat. Nein, ich wurde wegen meines Namens, soweit ich das sagen kann, nicht diskriminiert. Doch ich weiß natürlich, dass es auch statistisch nicht erfasste Diskriminierung gibt, etwa bei Vermietungen von Wohnungen. Dieses Wissen war einer der Gründe dafür, warum es für mich nicht infrage kam, meinen Namen an meine Kinder weiterzugeben.

Sie setzen sich in dem Klagenfurter Text mit dem „Herkunftsland“ und dem „Ankunftsland“ auseinander. War es die Brisanz des Themas, die Sie von der Lyrik – durch die man Sie bisher kannte – zur Prosa wechseln ließ?

Ich würde behaupten, ich bin nie von dort nach da gewechselt. Ein narrativer Grundimpuls war von Anfang an angelegt in meinem Schreiben. Es geht für mich darum, herauszufinden, ob ich den Atem habe für einen erzählerischen Marathonlauf. Es mag sein, dass Herkunft ein für die Öffentlichkeit brisantes Thema ist, weil große gesellschaftliche Konflikte daran hängen. Doch das leitet mich beim Schreiben nicht.

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Berliner Zeitung/Markus Wächter
Zur Person
Alexandru Bulucz, geboren 1987 in Alba Iulia, Rumänien. Im Jahr 2000 emigrierte er mit seiner Familie nach Deutschland. Er studierte Germanistik und Komparatistik in Frankfurt am Main und lebt heute in Berlin. Er arbeitet als Autor, Herausgeber, Kritiker und Übersetzer, veröffentlichte die Gedichtbände „Aus sein auf uns“ und „was Petersilie über die Seele weiß“ und mehrere Gesprächsbücher mit Philosophen. Beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt gewann er 2022 den mit 12.500 Euro dotierten Deutschlandfunk-Preis, die zweithöchste Auszeichnung bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur.

Was ist es dann?

Es gibt Langzeitfolgen der eigenen Emigration, und ich würde insbesondere durch Erinnerungsarbeit und eine binationale Perspektive gern die Kontrolle darüber gewinnen, was natürlich illusorisch ist. Mir schwebt eine soziologische Herangehensweise an das Thema vor, und das lässt sich leichter in der Prosa umsetzen als in der Lyrik. In meinem Fall würde sich eine „Autosoziobiografie“ anbieten. Ausgezeichnet dargelegt wurde dieses literarische Genre, zu dessen Hauptvertretern Autoren wie Didier Eribon und Edouard Louis zählen, unter anderem vom Literaturwissenschaftler Carlos Spoerhase.

Den genannten Autoren geht es um die Abkehr vom sozialen Milieu der Herkunft. Ist das bei Ihnen auch so?

In meiner Familie bin ich der Einzige mit einem akademischen Abschluss. Also überlappten sich bei mir die Überwindung von Landes- und Klassengrenzen. Migranten, die während ihrer Integration einen Klassenaufstieg vollziehen, bleiben die absoluten Ausnahmen. Was hat diesen Doppelerfolg begünstigt, welche Verluste sind damit auch verbunden? Solche Fragen beschäftigen mich.

Wann können wir das Buch „Einige Landesgrenzen weiter östlich“ lesen?

Das werde ich inzwischen häufiger gefragt. Der einzige Grund, schnell damit fertig zu werden, ist finanzieller Natur. Doch diese Dringlichkeit ist keine, die ich akzeptiere.

Es gibt zunehmend mehr auf Deutsch geschriebene Romane, in denen Autorinnen und Autoren sich mit den Ländern ihrer Eltern und Großeltern beschäftigen. Übernimmt die Literatur etwas, das sonst in der Gesellschaft fehlt?

Ich denke, man kann das so sehen. Literatur ist eine Nische, in der typische Formen von Migrantenindividualität zum Ausdruck gelangen können.

De facto ist Deutschland ein Einwanderungsland. Wurde bisher zu wenig oder unter falschen Voraussetzungen darüber gesprochen, wie es ein Zuhause für Menschen mit verschiedenen Herkunftsbiografien sein kann?

Mir scheint es, dass die Debatte weiterhin viele Menschen berührt. Vonseiten der Politik wird sie häufig simuliert, habe ich den Eindruck, das heißt, instrumentalisiert für linke, konservative, reaktionäre oder nationalistische Ideale. Sie wird dort, das finde ich in der Tat, unter falschen Voraussetzungen geführt. Zuletzt war wieder die Rede von der Unwilligkeit bestimmter Migranten, sich hierzulande zu integrieren. Als ob Integration per se eine Frage des Willens ist. Wenn gewisse Bedingungen nicht gegeben sind, kann sich ein Wille zur Integration gar nicht erst bilden. Und natürlich sollte man sich auch fragen, ob Integration im klassischen Sinn noch Maßstab eines modernen Einwanderungslands bleiben kann.

Waren die Bedingungen bei Ihnen günstig?

Im postsozialistischen Rumänien der Neunzigerjahre galt in der Schule noch immer, es aufs Klassentreppchen zu schaffen und nicht einfach das Schuljahr irgendwie zu bestehen. Lehrer waren Autoritäten. Zudem war ich schon in frühen Jahren Leichtathlet, Leistungssportler. Mein dort antrainierter Konkurrenzgeist, das Sich-Heranwagen an Grenzen körperlicher und mentaler Leistungsfähigkeit, gereichte mir später zum Vorteil bei der Integration, da bin ich mir sicher. In Deutschland waren es schließlich die Vorbilder, die mir Integration und Klassenaufstieg erleichterten. Zunächst meine Mutter: Was ihr verwehrt blieb, sollte mir nicht verwehrt bleiben, und das meinte vor allem weiterführende Bildung. Dann meine Lehrer auf dem Gymnasium und an der Universität. Ich wollte ihren Ansprüchen gerecht werden, sie beeindrucken. Unterm Strich hatte ich großes Glück und bin dankbar für die Handreichungen vonseiten des Staates in Form von Bafög oder Stipendien und für jene Menschen, die in dessen Dienst stehen, auch wenn mir bewusst ist, dass dort auch viel, viel zu viel schiefläuft.

Emilia Smechowski erzählt in ihrem Buch „Wir Strebermigranten“ von einer „Assimilation im Zeitraffer“, die wie sie viele Polen in Deutschland erlebt und praktiziert hätten. Sind Sie auch im Zeitraffer erwachsen und deutsch geworden?

Ja, das betrifft vor allem die sechs Jahre bis zum Abitur, die ich in einem Sportinternat in Hessen verbracht habe. Das war eine Phase der Turbointegration, könnte man sagen, eine Phase fast kompletter Selbstverleugnung. Ich wollte nichts mehr wissen von meiner rumänischen Herkunft und Muttersprache. Ich wollte meine Vergangenheit vergessen und auslöschen, damit dem Neuen, dem Leben in Deutschland, genug Raum gegeben ist. Selbst an Wochenenden wollte ich das Internat nicht verlassen.

Ich las jetzt, wer nach den Vornamen von Tätern fragt und Deutsch auf Schulhöfen fordert, könne auch gleich sagen: Ausländer raus! Für mich sind das zwei verschiedene Dinge. Die Vornamen-Frage ist offen diskriminierend, die Sprache zu lernen scheint mir eine Voraussetzung für die Zukunft. Wie sehen Sie das?

Ich würde denselben Unterschied machen. Die Frage ist, gibt es realistische, pragmatische Alternativen zu Deutsch und Englisch als Hauptverkehrssprachen hierzulande? Eher nicht. Für mich war es von vornhinein klar, ich möchte mich mit Haut und Haaren auf die neue Sprache Deutsch einlassen, auch wenn ich etwas verlieren sollte dabei. Doch ich brachte, apropos Integrationsbedingungen, schon eine gewisse Sprachbegeisterung mit.

In Klagenfurt haben Sie auch Behzad Karim Khani kennengelernt. Er schrieb in der Berliner Zeitung einen Kommentar zu den Reaktionen auf die Neuköllner Silvester-Krawalle. Sein Grundton: Die meisten alteingesessenen Deutschen wehren die Zuwanderer ab. Das sei eine Folge der unvollständigen Auseinandersetzung mit der Geschichte. Können Sie seine Wut verstehen?

Ich muss mit Behzads polemischen Argumentationen nicht einverstanden sein, um ihn weiterhin zu schätzen. Er ist ein wunderbarer Schriftsteller, und was er sagt, ist erfahrungsgesättigt, und das respektiere ich. Doch das ist es dann auch, was unsere Sichtweisen voneinander unterscheidet, nämlich die eigenen Erfahrungen. Nehmen wir die hiesige wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dem Genozid an den europäischen Juden, aus der sich bis heute auch die praktische Verantwortung Deutschlands für jüdisches Leben im Besonderen und für historisch Marginalisierte im Allgemeinen ableitet. Sie ist geradezu vorbildlich, wenn man sie mit der Auseinandersetzung im Land meiner Herkunft vergleicht. In Rumänien, dessen faschistische Militärdiktatur mit Nazideutschland kollaborierte, wurde erst nach der Jahrtausendwende eine „Internationale Kommission zur Erforschung des Holocaust in Rumänien“ unter der Leitung des gebürtigen Rumänen Elie Wiesel einberufen.

Sind in Deutschland die politischen Stimmen gegen Thesen wie von Thilo Sarrazin oder jetzt von Friedrich Merz mit den „kleinen Paschas“ zu leise?

Ja, mir sind sie zu leise, und zwar aus dem schon genannten Grund: Wer über arabischstämmige Schüler herzieht und sie als kleine Paschas beschimpft, hat keine Ahnung von deren Lebenswirklichkeiten und dem, was ihnen zur Bildung eines Willens zur Integration fehlt.

Was hat Sie Silvester mehr erschreckt: Dass hier in Berlin aus einem Lärm- und Leucht-Ritual eine Art Straßenkampf geworden ist? Oder dass die Beschäftigung mit dem Thema in Politik und Medien an Grundfragen der Integration rührt?

Ersteres natürlich. Gezielte Angriffe auf Einsatzkräfte, zumal bei einer so unübersichtlichen Lage wie zu Silvester, sind inakzeptabel und mit nichts zu rechtfertigen. Doch man sollte dabei nicht vergessen, dass die Zahl der konkreten Übergriffe stark nach unten korrigiert wurde. – Die Politik ist natürlich dankbar für jedwede gesellschaftliche Polarisierungsmöglichkeit. Zufälligerweise steht Berlin vor der Wiederholungswahl, und die Parteien führen Wahlkampf. Es kann sogar sein, dass die aktuelle Integrationsdebatte Franziska Giffey in die Hände spielt. Denn, man erinnere sich, für ihr Agieren als ehemalige „durchgreifende“ Bezirksbürgermeisterin von Neukölln wurde sie stets gelobt.